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1964 - Fall Timo Rinnelt

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“Haben Sie das Geld bereit...?”

1964 - Der Fall Timo Rinnelt

Der Antiquitätenhändler Joachim Rinnelt erstattete am 13. Februar 1964 bei der Polizei  Vermisstenanzeige. Sein siebenjähriger Sohn Timo war vom Spielen nicht zurückgekommen. Um 17 Uhr wurde er vor dem Haus seiner Eltern, in der Wiesbadener Wilhelmstraße 17, zum letzten Mal gesehen.

Wilhelmstrasse 17 - 03

Wilhelmstr. 17 - hier wohnten damals die Rinnelts

© Copyright:Arndt-Heinz Marx, 2008

Als Timo am kommenden Tag auch noch nicht aufgetaucht ist, läuft der Polizeiapparat an.

Der Wiesbadener Kripochef unterzeichnet persönlich eine Suchmeldung, die im Radio und im Fernsehen, in der „Hessenschau“, ausgestrahlt wird. Es ist das erste Mal, dass eine Suchmeldung im Fernsehen gesendet wird. Die Suchmeldung bleibt jedoch erfolglos. Nun durchkämmen Hundertschaften der Bereitschaftspolizei, unterstützt von Einheiten der Bundeswehr, Wälder, Kanäle, Schrebergärten, Trümmergrundstücke und Bahnanlagen. Auch der Teich im Wiesbadener Kurpark wird leergepumpt. Es war die bisher größte Suchaktion in Nachkriegsdeutschland. Am 17. Februar wird in einem Schaufenster eines Wiesbadener Kaufhauses eine Puppe ausgestellt, die Timos Kleidung trägt. Genau die, die er bei seinem Verschwinden anhatte. Die Mutter hat sie noch einmal besorgt. Dies waren: braune Cordhose, blauer Rollkragenpullover, grüner Nickipulli und braune Lederschuhe.

Die Methode mit der Schaufensterpuppe ist auch 1964 nicht neu. Bereits in den zwanziger Jahren ließ der legendäre Chef der Berliner Mordinspektion, Ernst Gennat, in einem Breslauer Kaufhaus-Schaufenster zu Fahndungszwecken zwei Puppen ausstellen, die mit der identischen Kleidung eines grausam ermordeten Geschwisterpaares ausstaffiert wurden.

Doch zurück nach Wiesbaden, in das Jahr 1964...

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Suchfoto, auf dem in einer Fotomontage Timo Rinnelt in der
Kleidung dargestellt wurde, die er am Tag seines Verschwindens trug

© Copyright: Polizeipräsidium Westhessen, Wiesbaden

Einen Tag später, am 18. Februar 1964 bekommen die Rinnelts einen merkwürdig adressierten Brief. Name und Adresse auf dem Kuvert sind aus dem Telefonbuch ausgeschnitten. Seltsam daran ist, dass die Rinnelts im Telefonbuch nur unter ihrer

Geschäftsadresse in der Wagemannstr. 37 eingetragen sind, aber nicht unter ihrer Privatadresse in der Wilhelmstr. 17. Doch dieser Brief ist an die Wilhelmstr. 17 adressiert.

Kennen der oder die Täter etwa die Verhältnisse?

Wagemannstrasse 37 - 01

Wagemannstr. 37, hier war das Antiquitätengeschäft der Rinnelts

© Copyright: Arndt-Heinz Marx, 2008

In dem Kuvert liegt ein Schließfachschlüssel mit der Nummer 320. Da der Wiesbadener Bahnhof nicht so viele Schließfächer hat, fahren Timos zwei Stiefbrüder zum Frankfurter Hauptbahnhof. Der Schlüssel passt, und die beiden Rinnelt-Brüder finden im Schließfach Timos rechten Schuh. Als Beilage ein Zettel. „15.000 DM Lösegeld“, „keine Polizei“ und die Forderung, den Anweisungen der Erpresser Folge zu leisten, steht in ausgeschnittenen Buchstaben darauf.

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Timos rechter Schuh. Gefunden im Schließfach 320

© Copyright: Polizeipräsidium Westhessen, Wiesbaden

Natürlich wird die Polizei eingeschaltet, und die Rinnelt-Wohnung wird noch am selben Abend, nach dem Auffinden des Schuhs und der Erpresserforderung am Frankfurter Hauptbahnhof, telefonisch überwacht. Es wird eine Soko „Timo Rinnelt“ gebildet, an der 30 Kriminalbeamte beteiligt sind. In der Nacht noch erfolgt der erste Erpresseranruf mit der Frage, ob der Brief angekommen sei. Am nächsten Tag fragt der Erpresser dann schon deutlicher nach: „Haben Sie das Geld bereit? Gut, in Ordnung“. Es ist eine verstellte jugendliche Stimme. Stutzig macht die Ermittler die Forderung nach den 15.000 DM. In den sechziger Jahren ist dies für einen Menschenraub keine hohe Summe mehr. Die Zeiten seit dem Goehner-Fall haben sich doch schon etwas geändert.

Am 19. Februar 1964 geht wieder ein Anruf in dem bewachten Haus in der Wilhelmstr.17 ein.

Der  Erpresser teilt mit, dass im Haus ein Brief auf der Kellertreppe abgelegt worden sei. Auf einem Karton mit leeren Bierflaschen am Kellerabgang wird dann tatsächlich ein Umschlag gefunden, in dem ein mit Druckbuchstaben beschriebener Zettel steckt. Wie kommt der Brief in das von der Polizei bewachte Haus?

Joachim Rinnelt wird in dem Brief aufgefordert, zu einer Telefonzelle am Wiesbadener Hauptbahnhof zu fahren. Dort findet der Vater wieder einen Zettel, mit der Aufforderung, wiederum zum Wiesbadener Marktplatz, zu einer der dortigen Telefonzellen zu fahren. Die Schnitzeljagd geht von Telefonzelle zu Telefonzelle weiter, ohne Ergebnis. Kidnapper wollen normalerweise schnellstens ihr Geld, was sollten also diese zermürbenden Quälereien?

Bei der Durchsicht von Ermittlungsakten des Falles Rinnelt, die im Wiesbadener Polizeimuseum  archiviert sind, stieß ich auf ein interessantes Protokoll, aus dem hervorging, dass über alle Bewohner der Wilhelmstr. 17 ein graphologisches Gutachten erstellt wurde. Wie gesagt, über alle Bewohner! Die Namen waren einzeln aufgeführt. Resultat – negativ.

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Das alte Polizeipräsidium in Wiesbaden – hier saß die Soko „Timo Rinnelt“

© Copyright: Arndt-Heinz Marx, 2008

Am 21. Februar wird die von der Polizei verordnete Nachrichtensperre gebrochen. Die Presse vermutet eine Entführung und fällt in Scharen in der Wilhelmstraße ein. Die Familie Rinnelt hat von jetzt an keine ruhige Minute mehr. Auf Schritt und Tritt sind Reporter hinter ihnen her. An den Fenstern der gegenüber liegenden Häuser lauern Fotografen, Redaktionen richten provisorische Büros in der Umgebung ein. Der spektakuläre Entführungsfall  ließ  den Sensationsjournalismus amerikanischer Prägung ausbrechen. Zeitungen, Boulevardblätter und Illustrierte hatten ihre Sensationsstory gefunden. Es entsteht eine regelrechte Massenhysterie.

Die nach Informationen hungernden Journalisten bekommen einen fleißigen Helfer. Ein 23jähriger Arztsohn, der bei der Mutter seines Stiefvaters, in der Wilhelmstr. 17 über den Rinnelts wohnt, bietet sich ihnen als Betreuer an. Die Hilfe wird gerne angenommen. So bekommt man Informationen direkt aus dem abgeschirmten Haus.

Den Rinnelts ist der junge Mann aber seit einiger Zeit etwas suspekt. Er geht ihnen aus dem Weg und grüßt nicht. Vor Gericht wird Joachim Rinnelt später aussagen, dass drei Tage nach dem Verschwinden von Timo, als er Klaus L. im Treppenhaus antraf, dieser den Gruß nicht erwiderte und schleunigst an ihm vorbeilief. „Er hatte den Kragen seines Mantels hochgeschlagen und sah völlig verfallen aus. Die Augen lagen tief in den Höhlen, so als ob er tagelang gefeiert hätte. Ich war richtig erschrocken.“ Auch wenn L. weiterhin Joachim Rinnelt in den nächsten Tagen begegnete, grüßte er im Gegensatz zu früher nicht, während andere Freunde und Bekannte dem Vater ihr Mitgefühl ausdrückten. Als die telefonische Anweisung des Entführers einging, dass auf der Kellertreppe ein Brief liegt, traf Carmen Rinnelt wenige Minuten säter dort auf Klaus L. Das sonderbare Verhalten des Mitbewohners wurde der Polizei von den Rinnelts mitgeteilt. L. wurde auch von der Polizei einen halben Tag  verhört,  aber offensichtlich als unverdächtig befunden, wie alle anderen routinemäßig überprüften Bewohner der Wilhelmstr. 17.

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Offizielles Fahndungsfoto

© Copyright: Polizeipräsidium Westhessen, Wiesbaden

Überall hängen Fahndungsplakate aus. Die Belohnung zur Klärung des Falles wird von 2000 DM auf 12.000 DM erhöht. Später noch einmal, auf 50.000 DM.

Am 23. Februar greifen die Ermittler zum letzten Strohhalm. Man verspricht den Entführern sechs Stunden Vorsprung, wenn sie dafür Timo freilassen. Das hessische Innenministerium erhebt schwere Bedenken gegen diese Zusage der Staatsanwaltschaft. Ein Beamter des Innenministeriums warnt: “Was meinen Sie, was dann hier in Deutschland los ist!“

Die Nagelprobe bleibt dem Staat erspart.

Auch die Presse will Timo für 15.000 DM freikaufen und verspricht den Entführern, keine Informationen an die Polizei weiterzugeben. Es melden sich zwei Männer. Doch die Reporter der „Abendpost“ werden reingelegt. Zum Glück werden die Trittbrettfahrer bald darauf dingfest gemacht.

In den Ermittlungsakten sah ich eine Liste von ca. 40 Namen von Trittbrettfahrern, die das Leid der Familie Rinnelt ausnutzen wollten. Zwei Kölner Ganoven lockten Joachim Rinnelt sogar mit 8000 DM per Flugzeug nach Barcelona. Dort nahmen sie ihm das Geld ab und verschwanden.

Erpresserbrief

Ein Erpresserbrief

© Copyright: Polizeipräsidium Westhessen, Wiesbaden

Die Ermittler verfolgen  Spuren nach allen Richtungen. Auch die Rinnelts selbst geraten in das Visier der Fahnder. Der eisige Hauch des kalten Krieges legt sich über den Fall. Da die Rinnelts im Jahre 1959 mit ihrer gesamten Habe aus Bautzen übergesiedelt waren, sie hatten auch dort ein Antiquitätengeschäft betrieben gehabt, hätte es ja sein können, dass sie eingeschleuste Ostagenten sind. Denn Flüchtlinge aus der „Zone“ kamen normalerweise nur mit einem Koffer. Die Rinnelts hatten aber alles mit rüberbringen dürfen, und Antiquitäten bringen bekanntlich Devisen.

In der DDR wiederum macht man sich den Kriminalfall aus propagandistischen Gründen zu Nutze. In der Kriminal-Reihe „Kriminalfälle ohne Beispiel“ des DDR-Fernsehens, in der spektakuläre Kriminalfälle aus der BRD verfilmt werden, wird auch der Fall Timo Rinnelt filmisch aufbereitet. Die Botschaft: Die Rinnelts verlassen die sichere DDR und verlieren ihr Kind im kalten und korrupten BRD-System. Am 05.02.1967 wird in dieser Reihe die Folge „Der Fall Timo Rinnelt“ ausgestrahlt. Da ist das Ende noch offen, der Täter noch nicht gefunden. Später, nach der Verhaftung und Aburteilung des Täters, wird nachgelegt. Dann entsteht der Zweiteiler „Das Verbrechen an Timo Rinnelt und seine Aufklärung“. Ausgestrahlt am 27. und 28.12.1969 im DDR-Fernsehen.

Bei der Durchsicht der Akten las ich auch, ich muss zugeben: teilweise amüsiert, die Briefe von Wahrsagern und Pendlern, die ihre Visionen der Polizei mitteilten. Es wurde von den Ermittlern nichts außer Acht gelassen. Nach jedem Strohhalm wurde gegriffen.

Am 03. März 1964 wird aus aktuellem Anlaß die Ausstrahlung der „Stahlnetz“-Folge „Rehe“ auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Da es in diesem Film um einen ähnlich gelagerten Fall geht – den Fall Goehner. Durch die verschobene TV-Ausstrahlung dieser „Stahlnetz“-Folge kreuzen sich in gewisser Weise die Fälle Goehner und Rinnelt.

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Siegurd Fitzek als Entführer in der STAHLNETZ-Folge “Rehe” (Screenshot)

Am 07. März 1964 schließlich wird die Erpresserstimme im Radio und im Fernsehen ausgestrahlt. Der Tonbandmitschnitt ist jedoch von schlechter Qualität, zu kurz und die Stimme verzerrt. Immer hört man die zwei Sätze: „Haben Sie das Geld bereit? Gut, in Ordnung.“ Im Gegensatz zum Fall Joachim Goehner, sechs Jahre zuvor, erkennt niemand die Stimme des Täters.

Doch ausgerechnet dieser qualitativ schlechte Tonbandmitschnitt wird den Täter drei Jahre später nachträglich in Panik versetzen.

Schließlich meldet der Hessische Rundfunk am 18. März 1964: „Auch nach sechs Wochen gibt es noch keinen Fahndungserfolg im Entführungsfall Timo Rinnelt. Die Polizei verfolgte bisher 162 Haupt- und 370 Nebenspuren. Gestern nun wurden die systematischen Suchaktionen offiziell eingestellt. Aus Polizeikreisen heißt es resigniert: Nur noch ein Zufall kann dieses Rätsel lösen.“

Die Sonderkommission „Timo Rinnelt“ wird aufgelöst. Der Soko-Leiter zur Sitte versetzt.

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Die Wilhelmstrasse in den 1960er-Jahren. (Sammlung A.H. Marx, Hanau)

Drei Jahre später: Die Jagd beginnt erneut – der Täter bläst das Halali!

Am 20. April 1967 erscheint im „Wiesbadener Kurier“ ein Artikel mit der Schlagzeile: „An ihrer Stimme wird man sie demnächst erkennen.“

Das Blatt berichtet über den Besuch eines amerikanischen Physikers namens Lawrence G. Kersta, der einen Tag zuvor im BKA in Wiesbaden über eine neue Methode der Täter-Identifizierung mit Hilfe sogenannter Stimmabdrücke referiert hatte. Mit dieser in den USA entwickelten Methode lassen sich aus der Tonbandaufzeichnung einer menschlichen Stimme Sprach-Spektrogramme anfertigen, die für jeden Menschen so charakteristisch sind wie Fingerabdrücke, selbst bei einer verstellten Stimme. Damals eine sensationelle technische Neuerung, heute fester Bestandteil bei der Verbrechensbekämpfung.

Diesen Artikel liest auch der Täter, und ihm bricht dabei der Angstschweiß aus. Denn seine Stimme wird im Archiv der Wiesbadener Polizei gelagert -  auf einem Tonband. Nach über drei Jahren doch noch entdeckt zu werden? Was machen? Absetzen? Dazu braucht man Geld!

Am 26. April 1967 trifft bei der Illustrierten „Quick“ in München ein in Wiesbaden abgestempelter Brief ein. Der anonyme Schreiber, der sich als M. bezeichnet, bezichtigt sich darin: „An der Entführung von Timo Rinnelt vor drei Jahren war ich beteiligt“. Gegen 15.000 DM verspricht er Informationen zu Timo´s Aufenthaltsort. Die Wiesbadener Kripo, die von der Quick-Redaktion in Kenntnis gesetzt wird, winkt erst einmal ab. „Kalter Kaffee“. Zu viele Spinner hatten sich in diesem Fall in den drei vergangenen Jahren gemeldet. Trotzdem arbeitet man verdeckt mit den Reportern der „Quick“ zusammen.

Von den Reportern, die sich im Wiesbadener Park-Hotel einmieten sollen, verlangt der Anonymus, der sich als M. bezeichnet, als Zeichen des Einverständnisses die Aufgabe einer Anzeige im „Wiesbadener Kurier“, Ausgabe vom 1. Mai 1967. Der geforderte Text: „7-Zimmer-Villa zu mieten gesucht.“ Die Anzeige erscheint termingerecht, aber der geheimnisvolle M. reagiert nicht.

Am 3. Mai wurde ein zweiter Brief in Wiesbaden aufgegeben. Diesmal lockt der Unbekannte mit einem Beweisstück – dem zweiten Schuh von Timo Rinnelt. So langsam wird der „kalte Kaffee“ der Kriminalbeamten etwas wärmer. Als Signal der Verständigung soll der Quick-Reporter mit seiner weißen Mercedes-Limousine in der Großen Burgstraße in Wiesbaden parken, mit eingeschaltetem Standlicht. Die Polizei observiert das Umfeld, wieder geschieht nichts.

Dann, am 10. Mai, kommt M.´s dritter Brief. Darin wird von dem Unbekannten mitgeteilt, dass der zweite Schuh Timo Rinnelts nicht mehr da sei, dafür aber ein Strumpf des entführten Jungen. Zu finden sei der Strumpf in einem Baumast an der Carl-Hoffmann-Hütte, einem Wetterschutz-Häuschen auf dem Wiesbadener Neroberg. Ein Kriminalbeamter wird als Reporter-Double zu dem angegebenen Ort geschickt. Der Beamte erkennt sofort den Baum und holt aus einem Loch in der Astgabel eine Plastiktüte heraus. Darin findet er einen grau-rot-karierten Kinderstrumpf – einen Strumpf von Timo Rinnelt. An dem Strumpf haftet Geruch – Verwesungsgeruch. Nun schrillen im Wiesbadener Polizeipräsidium sämtliche Alarmglocken!

Das Gerichtsmedizinische Institut in Mainz stellt später fest, dass an dem Strumpf Leichengewebe haftet. Man muss also davon ausgehen: Timo Rinnelt lebt nicht mehr!

Polizei und Quick-Reporter warten auf ein neues Signal des Unbekannten, nichts passiert.

Erneut wird eine Anzeige in den  „Kurier“ gesetzt. Am selben Tag gibt M. seinen vierten Brief auf. Man solle jetzt die 15.000 DM für die Informationen bereithalten. Ein Kriminalbeamter wird wieder den Quick-Reporter doubeln. Als der Kripomann ins Parkhotel geht, um sich mit dem Reporter abzusprechen, sieht er einen jungen Mann an einem Cafe´-Tisch sitzen, der ihm von den früheren Ermittlungen im Fall Rinnelt bekannt vorkommt – Klaus L. Sofort wird L.´s Foto vervielfältigt und an die Observationsgruppen der Kripo verteilt.

Der geheimnisvolle M. meldet sich erneut. Der Reporter soll sofort zum Kriegerdenkmal in das Nerotal kommen. Männliche u. weibliche Kriminalbeamte flanieren dort, als Liebespaare getarnt, durch den kleinen Park. An strategischen Punkten stehen Beamte mit Zivilwagen sowie mehr als eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei bereit.

              
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Das Kriegerdenkmal im Nerotal    

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Der kleine Park im Nerotal

© Copyright: Arndt-Heinz Marx, 2008

Der als Reporter-Double fungierende Kriminalbeamte findet am Kriegerdenkmal eine getippte Karte, mit der Mitteilung, dass er zum Aussichtstempel auf den Neroberg kommen soll, dort finde er die nächste Nachricht. Dort angekommen, findet er die nächste Botschaft, die ihn wieder zum Kriegerdenkmal zurückführt. Es ist die gleiche Schnitzeljagd wie im Jahre 1964. Schließlich führt ihn eine Botschaft zu einem Parkweg. Dort entdeckt er auf dem Rasen eine zusammengefaltete Zeitung. Darin befindet sich die Mitteilung, an dieser Stelle seien nun die 15.000 DM zu hinterlegen. Im Päckchen befinden sich farbige Papierblätter im Format von 50-DM-Scheinen, beidseitig durch echte 50-DM-Scheine abgedeckt. Außerdem bastelten Experten des Landeskriminalamtes einen Feuerwerkskörper, der durch ein feines Kabel mit dem „Geldpaket“ verbunden ist. Den Feuerwerkskörper verbirgt der Kriminalbeamte zwei Meter entfernt im Gebüsch.

Die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen lauern die im ganzen Park und in der Umgebung verteilten und versteckten Beamten. M. kommt nicht! Das Feuerwerk findet nicht statt.

Doch einigen Kripo-Beamten fällt im Dunkeln ein Spaziergänger auf, dessen vervielfältigtes Foto sie in den Händen halten – Klaus L.!

L. benutzt einen VW mit dem Kennzeichen WI-XE 78, den er sich von einem Bekannten geliehen hatte. Der Wagen mit diesem Kennzeichen war schon öfter bei den von M. angegebenen Treffpunkten aufgefallen. Denn alle Fahrzeuge, die sich in deren Umgebung aufgehalten hatten, waren von den verdeckten Kripobeamten notiert worden.

Nun geht alles Schlag auf Schlag. Haftbefehl (ausgestellt am 24. Mai), Hausdurchsuchung! In L.´s Wohnung in der Viktoriastraße 11 sowie im Keller des Hauses entdecken die Kriminalbeamten die beiden Schreibmaschinen, mit denen L. die Briefe an die „Quick“ schrieb.  Dem geheimnisvollen„M“. wurde die Maske vom Gesicht gerissen!

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BILD-Schlagzeile

Archiv: Polizeimuseum Wiesbaden

Doch L. schweigt sich über den Verbleib von Timo Rinnelt aus. Am 29. Mai hört ein in der Wilhelmstraße 58  praktizierender Rechtsanwalt, dass man L. verhaftet hat. Er hat seine Kanzlei in den Räumen, in denen früher L.´s Vater, ein angesehener Wiesbadener Arzt, praktiziert hatte. Der Familie L. gehören nach wie vor noch Kellerräume im Haus. An der Kellertür steht sogar noch der Name von L.´s Vater. Der Anwalt verständigt die Polizei.

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Das Haus Wilhelmstr. 58

© Copyright: Arndt-Heinz Marx, 2008

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Die Eingangstür zum Mordkeller, der Mordkeller von innen

© Copyright: Polizeipräsidium Westhessen, Wiesbaden

Polizeibeamte untersuchen den Keller, der voller Gerümpel steht. Als sie zu einem mit Mörtelschutt bedeckten Lichtschacht kommen, riechen sie zum erstenmal den strengen Leichengeruch. Als sie die Schuttschicht abtragen, wird aus der bösen Ahnung Gewissheit – in Plastiktüten verpackt und in einen alten Teppich eingewickelt liegt auf dem Grunde des Lichtschachts die in die Verwesung übergehende Leiche von Timo Rinnelt!

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Der Lichtschacht, in dem Timo Rinnelts Leiche lag

© Copyright: Polizeipräsidium Westhessen, Wiesbaden

Bei der Obduktion im Gerichtsmedizinischen Institut wird später festgestellt, dass Timo Rinnelt höchstwahrscheinlich gewaltsam erstickt worden ist. Um seinen Hals befindet sich ein fünffach verknotetes Elektrokabel. Dieses Kabel gehört wiederum zu einem ausrangierten Kühlschrank, der im Mordkeller steht.

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Der Kühlschrank im Mordkeller

© Copyright: Polizeipräsidium Westhessen, Wiesbaden

Auch wird festgestellt, dass die obersten drei Knöpfe von Timos Cordhose aufgeknöpft sind. Ein zumindest versuchtes Sexualverbrechen? Was war das Motiv?

L. gesteht zuerst seinem Anwalt die Tat, dann der Kripo. Am 13. Februar 1964 hat er Timo Rinnelt auf der Straße getroffen, als dieser Arbeitern zuschaute, die gerade Bäume schnitten. Timo habe L. gefragt, ob er mitkommen dürfe. L. wollte nämlich eine Schale aus dem Keller in der Wilhelmstr. 58 holen, die er für den Entwickler seiner Fotoarbeiten brauchte. Dann sei es über ihn gekommen. Er weiß nicht mehr, was dann im Keller passiert ist. Heute würde man dies als „Blackout“ bezeichnen. Weiß L. es nicht mehr, oder will er es nicht mehr wissen? Verdrängt er etwas?

Fest steht, bereits am 13. Februar 1964, am Tag seines Verschwindens, wurde Timo Rinnelt von Klaus L., im Keller der Wilhelmstr. 58 ermordet.

Als er noch als Betreuer der Journalisten fungiert hat, ließ er bei diesen öfters Bemerkungen fallen,  „dassTimo keineswegs ein so liebes und nettes Kind gewesen, sondern oft quengelig gewesen sei;  vielleicht sei es deshalb zu einem Totschlag gekommen, und die Entführung sei vorgetäuscht...“ Wollte L. damals schon Hinweise auf sich selber geben?

Auch kommt später bei der Gerichtsverhandlung zur Sprache, dass er bei einem befreundeten Mädchen im Februar 1964 einmal geäußert hat: „Der Timo sei ein fettes Schweinchen, das geschlachtet werden müsse...“

Für eine homosexuelle Veranlagung von L. spricht eigentlich nichts. Er hatte ein intimes Verhältnis mit der Tochter eines Wiesbadener Verlegers, fuhr mit ihr in den Urlaub und machte auch Aktfotos von ihr.

In den Ermittlungsakten konnte ich auch nachlesen, dass L.´s persönliche Freunde von der Kripo dahingehend vernommen wurden, ob ihnen bei L. eine sexuell abartige Veranlagung aufgefallen sei.

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Klaus L. mit seinem Cockerspaniel „Ginger“

© Copyright: Polizeipräsidium Westhessen, Wiesbaden

Als L. in das Gefängnis in der Albrechtstraße eingeliefert wird, sammelt sich bald vor dem Gebäude eine riesige Menschenmenge an. „Gebt ihn heraus!“ ertönen die Rufe. Die Polizei hat Mühe die aufgeheizte Volksmenge zurückzuhalten, die am liebsten den Knast stürmen und L. zum Lynchen herausholen will. Es kommt zu Festnahmen.

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Der alte ED-Stuhl im Polizeimuseum Wiesbaden
Auf dem saß damals auch Timo Rinnelts Mörder

© Copyright: Arndt-Heinz Marx, 2008

Bei den Verhören gibt L. zu, dass er nie eine Entführung geplant hat. Erst nachdem er die Leiche von Timo Rinnelt versteckt hatte, kam er auf die Idee, eine Entführung zu fingieren, damit niemand auf ihn, der mit den Rinnelts unter einem Dach wohnte, kommt.

Dann begann er mit den inszenierten Schnitzeljagden und den seelischen Quälereien an der Familie Rinnelt. Als er dann drei Jahre später den Artikel im „Wiesbadener Kurier“ über die neue Methode der Stimmen-Identifizierung las, kam die alte Furcht in ihm hoch, doch noch entdeckt zu werden. Er plant, sich mit den 15 000 DM der „Quick“ ins Ausland abzusetzen.

L., ein gescheiterter Realgymnasiast, ohne Abitur, war ein Unrast. Er hatte nie lange eine feste Arbeitsstelle, arbeitete mal als Volontär bei Zeitungen oder fuhr Wäsche aus. Durch kleinere Diebstähle und Betrügereien wurde er bald aktenkundig. Jedoch spielte er immer den Playboy, verkehrte in teuren Bars und leistete sich einen Sportwagen. Mit seinem Cockerspaniel flanierte er gerne durch die Parks der Kurstadt. Die 20 000 DM Erbteil brachte er schnell unter den Hammer. Klamm war er immer. Kurzum L. war einer derjenigen, die mit den großen Hunden pinkeln gehen wollen, aber das Bein nicht heben können. Irgendwie zehrte er, der Versager, immer  noch vom Ruf seines Vaters, dem angesehenen Arzt, der 1955 verstorben war.

Wahrscheinlich war er deshalb früh aus der Bahn geflogen, weil er den Tod seines Vaters nicht verwinden konnte. Der Mann, der ihm als Junge beim Baden das Leben gerettet hatte, als er fast ertrunken wäre, wurde sein Stiefvater. Wahrscheinlich fühlte er sich da irgendwie schuldig.

Ist  etwas in ihm explodiert, als er das wehrlose Kind bei sich im Keller hatte? Unterdrückte Aggression, oder vielleicht doch ein Ausbruch  verdrängter Homosexualität?

Das Motiv gibt heute noch Rätsel auf. L. hat auch während des Prozesses, die Zeit, die er mit Timo Rinnelt im Keller verbrachte, ausgeblendet. Er hat sich angeblich an nichts erinnern können…

Der Prozeß der am 17. Juli 1968 beginnt, hat wieder ein großes Medienecho. Die Zuschauer drängeln sich. Die Stimmung ist wieder aufgeheizt. Die Volksseele kocht.

Bei der Verhandlung wird L. von der Psychologin eine Persönlichkeitsstörung attestiert.

Die Verteidigung plädiert auf Totschlag, da L. eine unbedingte Tötungsabsicht nicht nachzuweisen sei. Jedoch kommt es trotzdem zur Verurteilung lebenslänglich wegen Mordes, da es sich um Mord aus Heimtücke gehandelt hatte. L. hat die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers ausgenutzt.

Das Urteil wird mit Jubelschreien vom Publikum aufgenommen. Der Staatsanwalt bedauert öffentlich, dass die Todesstrafe abgeschafft wurde. Heute würde ihn so eine Bemerkung den Job kosten.

Was bleibt, ist immer noch das ungelöste Rätsel des Motivs. Was geschah am 13. Februar 1964 im Keller der Wilhelmstr. 58 und warum? Darauf kann nur der Täter eine Antwort geben, aber er schweigt darüber bis heute.

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Das Original-Schild zur Pressekonferenz von 1967

Archiv: Polizeimuseum Wiesbaden

Foto: © Arndt-Heinz Marx, 2008

Nachbemerkung: Heute gibt es den sogenannten Täterschutz. Aus diesem Grunde wurde sein Nachname in diesem Bericht mit dem Anfangsbuchstaben abgekürzt. Seinen Vornamen tragen Unzählige. Seit 1985 lebt er, angeblich unter falschem Namen, wieder unter uns. Er ist heute 67 Jahre alt.

Mein besonderer Dank geht an Hrn. Hoffmann von der Pressestelle im Polizeipräsidium Westhessen in der Landeshauptstadt Wiesbaden, für die gewährte Akteneinsicht im Fall Timo Rinnelt sowie für die überlassenen authentischen Fotos. Nicht zu vergessen, ein Dankeschön an meinen Lektor M. S.