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Affäre Hofrichter 1909
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„Wirkung verblüffend…ergebenst…Charles Francis”

Wien 1909 – Die „Affäre Hofrichter“

Hauptmann Richard Mader, zugeteilt der Eisenbahnabteilung des k.u.k  Generalstabes, bekam im November 1909 eine merkwürdige Reklamesendung. Ein Pharmazeut namens Charles Francis hatte ihm eine Probepackung mit zwei Pillen eines angeblich neuen potenzfördernden Mittels geschickt.

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Dies war das Begleitschreiben des ominösen Charles Francis.
Quelle: Aus einer nicht veröffentlichten Dissertation von Mag. Dr. Bernhard Wenning, Wien

Im Begleitschreiben war die Wirkung des Mittels, das eine halbe Stunde vor dem Koitus eingenommen werden sollte, als „verblüffend“ bezeichnet. Mader hatte schon tagsüber seinem Kameraden Prinz Franz zu Hohenlohe die Packung samt Begleitbrief gezeigt und ihm gesagt, daß er die Pillen einnehmen wolle. Jetzt am Abend, es war bereits 18.00 Uhr und Mader war bester Laune, schickte er seinen Offiziersburschen Anton Tomola weg, um das Abendessen zu holen. Er selbst setzte sich an den Schreibtisch und schrieb einen Brief an seine Braut, eine Chansonettensängerin namens Annie Myrtley, gebürtige Amerikanerin, die gerade in Frankfurt am Main im „Kolosseum“ gastierte. Vielleicht schossen Hauptmann Mader im Moment, als er den Brief schrieb, einige erotische Gedanken durch den Kopf, vielleicht hatte er auch später noch ein Rendezvous; auf jeden Fall legte er den Federhalter beiseite und griff nach der Schachtel mit den zwei Pillen, die die männliche Potenz angeblich bedeutend erhöhen sollten…

In der Anklageschrift gegen den Täter wird später stehen: „Mader war für sexuelle Kuriositäten leicht empfänglich. Dies beweist ein bei ihm gefundenes selbst angefertigtes Album mit aufgeklebten pornographischen Abbildungen und Beschreibungen.“

Und nun entnahm Hauptmann i.G. Mader der Schachtel die beiden Oblaten, ohne zu wissen,daß darin schon den ganzen Tag der Tod auf ihn lauerte…

Er nahm ein Glas Wasser, schluckte die beiden Oblaten hinunter und widmete sich wieder dem Brief. Zwei Seiten waren schon vollgeschrieben, da – ein rasender Schmerz…und er brach mitten in einem Satz auf der dritten Seite ab…Später wird man feststellen, daß sich auf der angefangenen Seite ein Wassertropfen befand…

Als nach 5 Minuten der Offiziersbursche Tomola in die Wohnung in der Hainburgerstraße 56 zurückkam, fand er seinen Hauptmann am Boden des Vorzimmers liegend, stöhnend und sterbend. Ein schnell zur Hilfe herbeigeholter Arzt aus der Nachbarschaft konnte nur noch den Tod von Richard Mader feststellen.

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Zeitgenössische Aufnahme von Hauptmann Mader.
©Bildarchiv ÖNB, Wien

Auf dem Meldezettel der „Wiener Freiwilligen Rettungs-Gesellschaft“ vermerkte der Arzt:“Die Todesursache ist nicht bekannt“. Man tippte zuerst auf einen Schlaganfall. Doch zwei Tage später, am 19. November, wurde bei der gerichtlichen Obduktion von Maders Leiche durch Militärärzte die wahre Todesursache festgestellt: Vergiftung durch Zyankali! Das von Charles Francis angepriesene neue Potenzmitel hatte im wahrsten Sinne des Wortes für eine verblüffende Wirkung gesorgt!

Bald meldeten sich noch andere Generalstabsoffiziere, welche die gleiche Sendung zugeschickt bekommen hatten. Bei der chemischen Untersuchung der Pillen ergab sich, daß auch diese Zyankali enthielten. Daraufhin ließ der Chef des k.u.k.-Generalstabes, Franz Conrad von Hötzendorf, an alle Garnisonen der Monarchie eine Warnung telegrafieren. Es stellte sich heraus, daß außer Mader noch elf andere Generalstabsoffiziere das Stärkungsmittel „gegen vorzeitige Abnahme der Mannbarkeit“ per Post erhalten hatten. Also insgesamt zwölf Mann! Was und wer steckte hinter der Giftanschlagsserie? Ein eifersüchtiger Ehemann, Feinde der Monarchie oder Agenten einer ausländischen Macht? Der Sicherheitsapparat der k.u.k.-Monarchie lief auf Hochtouren. So schrieb „Das interessanteBlatt“ am 02. Dezember 1909:

„Das Wiener Sicherheitsbureau arbeitete während der Woche seit der Entdeckung des furchtbaren Verbrechens unter der Leitung seines Chefs, des Regierungsrates Stuckart, mit fieberhafter Anspannung seiner äußersten Kräfte, und der ganze großstädtische Apparat der Polizei war in Bewegung bei der großen Treibjagd, auf welcher der Schuldige immer enger eingekreist werden sollte. Das Polizeigebäude an der Ecke der Elisabethpromenade glich einem Bienenkorb, das auch in der Nacht und an Sonntagen nicht zur Ruhe kam, und die Funktionäre hatten eine beispiellos harte Zeit. Telephon und Telegraph spielten unausgesetzt nach allen Richtungen, die Anzeigen häuften sich zu Bergen, Detektives und Wachleute kamen erschöpft und gingen abermals aus, um mit bravouröser Zähigkeit und mit einer Schnelligkeit, welche die Hälfte des Erfolges ist, jede neue Spur aufzunehmen, welche sich durch Anzeigen von Privatpersonen oder durch Untersuchungen des vorhandenen Materials bot.“                      

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k.u.k.-Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf

Historische Postkarte. Sammlung Arndt-H. Marx, Hanau

Die ersten Ermittlungen ergaben, daß alle Sendungen am 14. November 1909 beim Postamt Wien 59 (VI/2 Mittelgasse) um 8 Uhr früh abgestempelt wurden. Sie bestanden aus dem hektographierten Begleitschreiben in Kursivschrift und einem braunen Schächtelchen, das in rosa Seidenpapier eingewickelt war und das zwei Pillen in Oblatenkapseln enthielt. Es wurde festgestellt, daß der geheimnisvolle Absender mit dem Namen „Charles Francis“ nicht existierte.

Was war das Motiv? Es wurde bald ausgeschlossen, daß der Giftmordanschlag auf die Generalstabsoffiziere politische oder geheimdienstliche Hintergründe hatte. Dafür waren die Positionen der betroffenen Offiziere des Generalstabs zu unbedeutend. Auffallend war jedoch, daß alle 12 Offiziere Absolventen des Kriegsschuljahrganges 1905 waren und als Rangbeste teilweise im Hauptmannsrang dem k.u.k.-Generalstab zugeteilt worden waren. Wollte hier einer der Kriegsschulabsolventen, der nicht in den Generalstab übernommen worden war, seine Vormänner beseitigen, um anschließend auf diese makabre Art und Weise aufzurücken, um das Ziel, in das Generalstabskorps zu kommen, doch noch zu erreichen?

Bei den Nachforschungen gingen daher Polizei und Militär sehr behutsam vor. Erst einmal wurde die Fabrik in Wien ermittelt, die die Schachteln hergestellt hat. Es war die Firma „Richter & Rudolf“, die jedoch die Schachteln seit 5 Jahren nicht mehr fertigte. Lagerbestände könnten jedoch noch an Kunden in die Provinz gegangen sein. Die Ermittlungen zu den verwendeten Oblaten führten in Wiener Apotheken und Drogerien vorerst zu keinem Ergebnis. Jedoch wurden die Papiergroßhandlung sowie die Fabrik ermittelt, von denen das Kopierpapier sowie die verwendeten Kuverts stammten.

Von den Postbeamten konnte sich erst einmal niemand erinnern, wer dort am 14. November die Sendung aufgegeben hatte. Erst am 22. November glaubte die Postmanipulantin Antonie Posselt, sich an einen ca. 28 Jahre alten blonden Mann erinnern zu können, der in Zivil erschienen war und die Sendungen persönlich beim Postschalter abgegeben hatte. Dies entpuppte sich jedoch bald als falsche Spur. Jedoch wurden im Zuge der Ermittlungen einige verdächtige Offiziere in Zivil gesteckt und zu Fahndungszwecken fotografiert. Es wurde dann jedoch auf die Aussagen von den Postbediensteten Born und Krass festgestellt, daß die fraglichen Sendungen aus einer Briefkastenleerung stammten, die am 14. November um 8 Uhr früh vorgenommen worden war, und daß der Täter zwischen 6 Uhr und 7.30 Uhr die Giftbriefe in einen Briefkasten in der Mittelgasse, Wien VI/2, geworfen haben mußte.Trotz fieberhafter Ermittlungen der Kriminalpolizei konnte keine Personenbeschreibung gewonnen werden. Der geheimnisvolle „Charles Francis“ blieb in Wien vorerst ein Phantom!

Polizei und Militär ermittelten weiter im Umfeld der Absolventen des Kriegsschuljahrganges 1905. So schrieb am 02. Dezember 1909 „Das interessante Blatt“:

„In der Hauptrichtung aber stützte sich die von Regierungsrat Stuckart geführte Untersuchung, welche von Oberkommissar Dr. Weinberger, Kommissär Dr. Hussak, seitens des Generalstabs von Oberst Kutschera unterstützt wurde, auf die vielen Anzeichen, welche auf einen Täter aus Militärkreisen hindeuteten. Dafür war hauptsächlich maßgebend die sogenannte Mappierungsschrift der Briefe, wie sie beim Zeichnen militärischer Landkarten verwendet wird, ferner die Tatsache, daß die Briefe an Kriegsschüler eines bestimmten Jahrganges gingen, zwei davon in die Provinz, und daß bei letzteren das Wort „Hauptmann“ in der Adresse durchgestrichen und durch das Wort „Oberleutnant“ in Handschrift ersetzt war. Trotzdem die Mappierungsschrift fast immer denselben Charakter trägt, sind doch persönliche Kennzeichen zu finden und diese wurden nun mit dem Material, das der Generalstab aus seinen Archiven beistellte, duch Sachverständige und die Untersuchungskommission verglichen. Die dabei gewonnenen Verdachtsmomente und die darauf weitergesponnenen Nachforschungen wiesen nun auf den Offizier einer Provinzgarnison hin, welcher in den Ausweisen des Generalstabs mit der Rangnummer V bezeichnet war, und gegen diesen richteten sich nun die weiteren Erhebungen, welche mit größter Diskretion gepflogen werden mußten, da es sich um einen Offizier handelte.“

Besagter Offizier war Oberleutnant Adolf Hofrichter, Angehöriger des „Infanterieregiments Großherzog von Hessen und bei Rhein Nr. 14“, kurz genannt „die Hessen“, stationiert in Linz.

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Oberleutnant Adolf Hofrichter. Schaufoto im Wiener Kriminalmuseum

Folgende Indizien sprachen gegen ihn:

Hofrichter war vom Generalstab zur Truppe zurückversetzt worden und hatte vorerst keine Aussichten, wieder in den Generalstab aufzurücken. Nur Hofrichters  Vormänner hatten die Giftsendung zugeschickt bekommen, aber keiner der Offiziere, die ihm im Rang folgten.

Hofrichter hatte sich vom 10. Bis 15. November 1909 Urlaub erbeten gehabt, den er in Reichenau/Böhmen verbringen wollte. Tatsächlich hatte er dann jedoch 4 Tage dieses Urlaubs in Linz verbracht und war am 14. November 1909 um 6 Uhr früh am Wiener Westbahnhof eingetroffen. In Wien blieb er bis zum 15. November 1909 nachmittags bei seiner Schwiegermutter in der Hahngasse 3, wo sich seit 2 Tagen seine schwangere Frau aufhielt, mit der er dann zusammen nach Linz zurückreiste.

Hofrichter hätte bei seiner Ankunft in Wien die Giftsendungen persönlich in der Mariahilfer Straße in der Nähe des Westbahnhofs in einen Briefkasten werfen können.

                                     
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Die Mariahilfer Straße zur k.u.k.-Zeit

Historische Postkarte. Sammlung Arndt-H. Marx, Hanau

Es wurde ermittelt, daß die beiden Firmen, welche die für die Giftsendungen verwendeten Schachteln und die Kuverts geliefert hatten, diese auch nach Linz geliefert hatten; Schachteln und Kuverts waren dort also zu kaufen gewesen.

Durch einen ausradierten Firmennamen auf dem Innenboden der Schachteln, von dem man dann nur das Wort „Vienne“ erkennen konnte, hatte der Verdächtige den Anschein erwecken wollen, daß die Schachteln auch in Wien gekauft worden waren.

Hofrichter war ein guter Fotograf und konnte daher auch gut mit Zyankali umgehen und es sich beschaffen.

Hofrichter war graphisch gut ausgebildet und konnte daher ohne Schwierigkeiten die Kursivschrift für den Begleitbrief anwenden.

Hofrichter war unter seinen Kameraden als Streber bekannt.

Ein Kamerad von Hofrichter, der ebenfalls in Linz stationierte Oberleutnant Waldherr, hatte zu seinem Namenstag von Hofrichter eine kleine braune Schachtel mit Federn geschenkt bekommen. Eine Untersuchung dieser Schachtel ergab, daß sie mit jenen Schachteln identisch war, welche die Giftpillen enthalten hatten. Auch die Schriftzüge auf der verschenkten Schachtel wiesen eine große Ähnlichkeit mit der Schrift Hofrichters aus.

Aus diesem Grunde fuhr am 25. November 1909 eine gemischte Kommission, bestehend aus hohen Polizeibeamten und Offizieren des Generalstabs, nach Linz. Bereits einen Abend vorher, am 24. November, waren bei Hofrichter und anderen Offizieren auf Anweisung des k.u.k.-Generalstabschefs Hausdurchsuchungen vorgenommen worden. Bei Hofrichter waren gefüllte Oblatenkapseln ohne „Genfer Kreuz“ gefunden worden, wie sie auch für die Giftpillen verwendet worden waren. Hofrichter gab an, daß diese Oblaten ein Mittel gegen Würmer enthielten und er sie seinem Hund „Troll“ verabreicht gehabt hatte. Eine Untersuchung der Pillen ergab, daß sie kein Zyankali enthielten. Später wurde auch Hofrichters Hund „Troll“ veterinärmedizinisch untersucht. Es stellte sich heraus, daß er tatsächlich Würmer hatte und auch ein Antiwurmmittel verabreicht bekam.

                                       
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Hofrichters Hund „Troll” wird einer veterinärmedizinischen Untersuchung unterzogen.

Zeitgenössische Zeitungsillustration. ©Bildarchiv ÖNB, Wien

Am 26. November wurde bei Hofrichter abermals eine Hausdurchsuchung vorgenommen, bei der für einen Handschriftenvergleich Unterlagen beschlagnahmt wurden. Unmittelbar nach der Hausdurchsuchung wurde Hofrichter zum Linzer Platzkommando gebracht und dort einem militärgerichtlichen Verhör unterzogen.

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Hofrichter vor dem Platzkommando in Linz

Zeitgenössische Zeitungsillustration. ©Bildarchiv ÖNB, Wien

Zwischenzeitlich waren in Linz Ermittlungen bei Apotheken, Drogerien und Papierhändlern durchgeführt und Hofrichters Büro durchsucht worden. Durch diese mit Akribie durchgeführten Ermittlungen war weiteres belastendes Material gegen Oberleutnant Adolf Hofrichter zu Tage gekommen:

Vor dem 14. November 1909 hatte Hofrichter in Linz in der Kronenapotheke und in der Apotheke „Zum Schutzengel“ 10 Oblatenkapseln gekauft gehabt. Zudem hatte er sich das Befüllen der Oblaten vorführen lassen.

In der Papierhandlung Ploy und Müller hatte er mindestens 10 Schachteln derselben Sorte Papier gekauft gehabt, die für die Giftsendungen verwendet worden waren; durch seinen Offiziersburschen hatte er sich weitere 5 Schachteln besorgen lassen.

Bei der Firma Kirchmayer in Linz hatte er die gleichen Kuverts gekauft gehabt, die für den Versand der Giftbriefe verwendet worden waren.

In seinem Büro wurden 2 Schachteln gefunden die mit den Giftschachteln identisch waren, sowie ein Fläschen hektographischerTtinte, die er bei der Firma Brunntaler in Linz gekauft hatte. Chemischen Untersuchungen zufolge stimmte die Tinte mit der Tinte überein, die für die Begleitbriefe der Giftsendung benutzt worden war. Auch wurde ermittelt, daß Hofrichter bei der Firma Brunntaler in Linz ein Schapirographenblatt gekauft hatte, welches von gleichem Format war, wie das Begleitschreiben der Giftsendung.

Dies waren nun genug Indizien, um Oberleutnant Adolf Hofrichter am 26.  November 1909 nach dem militärgerichtlichen Verhör in Untersuchungshaft (Präventivhaft) zu nehmen.

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Hofrichter in seiner Zelle im Wiener Garnisonsgericht.

Zeitgenössische Zeitungsillustration. ©Bildarchiv ÖNB, Wien

In der Zwischenzeit waren Schriftstücke mit der Handschrift Hofrichters einem Schriftsachverständigen vorgelegt worden, der feststellte, daß der Begleitbrief der Giftsendung dieselbe Handschrift aufwies wie das ihm vorgelegte schriftliche Vergleichsmaterial. Auch fanden sich Zeugen, die Hofrichter in der Nacht vom 13. auf den 14. November 1909 im Zug angetroffen und gesehen hatten, wie er nach dem Verlassen des Zuges am Wiener Westbahnhof zu Fuß in Richtung der Mariahilfer Straße gegangen war.

Adolf Hofrichter wurde den Militärbehörden überstellt und im 1907/08 erbauten Gebäude des Wiener Garnisonsgerichts am Hernalser Gürtel inhaftiert. Sein militärischer Untersuchungsrichter wurde Hauptmannauditor Jaroslav Kunz.

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Jaroslav Kunz führte als Hauptmannauditor die militärgerichtliche
Untersuchung gegen Hofrichter. Hier ein späteres Foto von ihm
in der Uniform des Generalauditors der tschechischen Armee.

©Mag. Dr. Bernhard Wenning, Wien

„Das interessante Blatt“ schrieb am 09. Dezember 1909:

„Bemerkt muß werden, daß der Oberleutnant nach dem klaren Wortlaut des Militärstrafgesetzes nicht zum Tode verurteilt werden kann, wenn er nicht gesteht. In den diesbezüglichen Bestimmungen ist ausgeführt, daß ein Offizier, der nicht auf frischer Tat betreten oder nicht vor einwandfreien Zeugen unmittelbar bei Ausführung des sonst mit dem Tode strafbaren Verbrechens gesehen wurde, nicht mehr dem Henker verfallen kann. Das Urteil nach einem sogenannten Indizienprozeß, daß heißt nach indirekter Beweisführung durch belastende Momente, kann höchstens auf zwanzig Jahre Kerker lauten. In manchen Kreisen herrscht die Ansicht vor, daß der Offizier wegen dieser militärischen Prozessbestimmung nicht gesteht.“

Jaroslav Kunz war Untersuchungsrichter, Ankläger und Referent für den Urteilsspruch in einer Person. Das Militärgerichtsverfahren, das aus der Zeit Maria Theresias stammte, war geheim, und ein ziviler oder militärischer Strafverteidiger war nicht zugelassen. Die Familie von Hofrichters Ehefrau beauftragte wohl den damals prominenten Wiener Strafverteidiger Dr. Pressburger mit der Verteidigung von Adolf Hofrichter, doch hatte dieser auf das Verfahren keinerlei Einfluss; er hatte noch nicht einmal die einem Strafverteidiger in einem zivilen Strafverfahren zustehende Akteneinsicht. Er reichte dem Militärgericht lediglich eine Vollmacht ein, um zur Vorlage von Beweisen für die Unschuld seines Mandanten legitimiert zu sein.

Dr. Pressburgers Interesse scheint besonders der Frau seines – mittlerweile isolierten – Mandanten gegolten zu haben. So schrieb Hofrichter in „10 Jahre Kerker zu Möllersdorf“: „Als ich mich plötzlich wieder meiner Frau zuwende, hoffend, doch einen Blick alter Liebe zu empfangen, da –sehe ich, wie Dr. Pressburger ihr zärtlich das Haar streichelt, wie sie ihm die Hand küsst, die er ihr lächelnd überlässt.“

Die Familie Hofrichters hatte auch ein Detektivbüro mit der Überwachung von Hofrichters Ehefrau beauftragt. Hierzu heißt es an anderer Stelle in Hofrichters Schrift verbittert:

„Sie wurde am Semmering oft von einem älteren Herrn aus Wien besucht, den sie für ihren Anwalt ausgab. Nun, wenn die Frau, wie sie mir schrieb, nichts von der Klage gegen mich wußte, womit haben sich die Beiden unterhalten? Sicher mit Scheideangelegenheiten.“

Noch während des Verfahrens fiel Hofrichters Ehefrau von ihm ab und leitete über die Kanzlei von Dr. Pressburger die Scheidung ein.

Doch zurück zum Militärgerichtsverfahren gegen Hofrichter. Trotz erdrückender Indizien, die gegen ihn sprachen, legte er kein Geständnis ab. Man durchleuchtete nun auch sein Vorleben. Es kam einiges zu Tage, was ein finsteres, ja ein vernichtendes Licht auf den k.u.k. Oberleutnant warf:

Während seiner Untersuchungshaft hatte Hofrichter den zu seiner Bewachung abgestellten Profoss Tuttmann dazu verleitet, Kassiber an seine Frau aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Er hatte sie darin u.a. dazu aufgefordert, falsche Aussagen zu machen und ein Gift, versteckt in einem Nelkenkelch, einzuschmuggeln, das nach der Einnahme eine Geisteskrankheit vortäuschen sollte. Die Kassiber waren letztlich für Hofrichter aber ein Schuß gewesen, der nach hinten losgegangen war;sie führten auch dazu, daß seine Ehefrau an ihm zu zweifeln begann und sich von ihm trennte.

Hofrichter war während seiner Kadettenzeit mit der Pastorentochter Johanna Amlacher aus Herrmannstadt/Siebenbürgen verlobt gewesen, und zwar in den Jahren 1901/02. Bis 1904 hatte Johanna Amlacher in München gearbeitet. Im Februar 1904 war sie zu ihrer Schwester Elsbeth Hofrichter (diese war mit Hofrichters Bruder Theodor verheiratet) nach Leitmeritz gefahren, wo sie plötzlich starb. War sie etwa eines unnätürlichen Todes gestorben? Das Verlöbnis mit Adolf Hofrichter war offiziell nie gelöst worden. Hatte Johanna Amlacher Hofrichters Karriere im Wege gestanden, und hatte er auch sie durch Gift beseitigt?

Am 12. Januar 1910 fand eine gerichtliche Exhumierung der Leiche von Johanna Amlacher statt. Im ärztlichen Gutachten hieß es, daß:

„1. Ein natürlicher Tod ebenso wenig ausgeschlossen werden kann als eine Vergiftung

2. ein Selbstmord nahe zu mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann

3. eine Schwangerschaft zur Zeit des Todes nicht unbedingt auszuschließen, jedoch aber auch nicht nachzuweisen ist, daß hingegen eine solche in früher Zeit (November, Dezember 1903 und Jänner 1904) sogar sehr wahrscheinlich bestanden haben dürfte…“

Das heißt, Hofrichter habe seine Verlobte zu einer illegalen Abtreibung, zu einer „Engelmacherin“ geschickt gehabt. Vernichtend nach den strengen Moralbegriffen jener Zeit. Außerdem endeten illegale Abtreibungen damals oft tödlich!

Auch Urkundenfälschung wurde Hofrichter nachgewiesen. Er hatte Marschrouten für Privatreisen 1. Klasse gefälscht gehabt.

Im Juli 1909 hatte Hofrichter versucht gehabt, unter dem falschen Namen „Dr. Haller aus Prag“ eine junge Dame in ein Linzer Hotel zu einem amourösen Abenteuer zu locken. Diese hatte sich auf eine Annonce des angeblichen Arztes gemeldet gehabt, um sich als Gouvernante für seine Familie zu bewerben. Die Polizei war jedoch auf diese Sache aufmerksam gemacht worden; es könne sich um einen Mädchenhändler handeln. Sie hatte daraufhin Hofrichter verhaftet. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß es sich um einen Oberleutnant vom 14. Infanterieregiment, stationiert in Linz handelte, hatte allerdings die Polizei eine Anzeige bei der Militärbehörde unterlassen; einem Offizier wollte man keine Schwierigkeiten machen.

Auch eine damals als Verbrechen gewertete Insubordinationsversetzung wurde Hofrichter nachgewiesen. Er hatte beim Sarajewoer Tageblatt einen Aufsatz lanciert gehabt, in dem er beleidigende Angriffe gegen seinen damaligen Korpskommandanten und den Divisionsgeneralstabschef gerichtet hatte.

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 Sarajewo zur k.u.k.-Zeit Adolf Hofrichter war Teilnehmer bei der Annexion von Bosnien-Herzegowina.

Historische Postkarte. Sammlung Arndt-H. Marx, Hanau

Man sieht Hofrichter war für die Anklage und das Gericht ein Mensch „minderwertigen Charakters.“ Ein Unschuldslamm war er bestimmt nicht.

Dann, am 26. April 1910 legte Hofrichter überraschend ein Geständnis ab.

                 
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Adolf Hofrichter legt das Geständnis ab.

Zeitgenössische Zeitungsillustration. ©Bildarchiv ÖNB, Wien

Er habe dies alles nur aus Liebe zu seiner Frau getan. Er beschuldigte sie sogar indirekt einer Mitwisserschaft an den Vorbereitungshandlungen. Frau Hofrichter, die von Linz nach Breslau übersiedeln wollte, wurde verhaftet und zum Wiener Sicherheitsbüro gebracht. Nach einem Verhör wurde sie vorerst in Haft behalten, jedoch nach einer erneuten Vernehmung wieder auf freien Fuß gesetzt. Hofrichter machte keine belastenden Angaben, und eine Mitwisserschaft oder gar Tatbeteiligung war Frau Hofrichter sicher zu Recht nicht nachzuweisen.

Adolf Hofrichter wurde weiter verhört, hielt sein Geständnis aufrecht, wurde während dieser Zeit auch wiederholt von Psychiatern untersucht. Dann ließ er am 09. Mai 1910 die Bombe platzen und widerrief sein Geständnis.

Am 02. Juni 1910 schrieb „Das interessante Blatt“ dramatisch:

„Der Letzte Akt des düsteren Dramas hat nun begonnen. Durch schweren Richtereid zur Geheimhaltung des Verfahrens und des Urteils gebunden, sitzen nun acht Kameraden des so tief gefallenen Oberleutnants Adolf Hofrichter als seine Richter auf Leben und Tod hinter den verschwiegenen Mauern des Wiener Garnisonsgerichtes, um wegen Mord, Mordversuch, Verleitung zum Mißbrauch der Amtsgewalt und Dokumentenfälschung ihren Spruch zu fällen…“ Weiter heißt es in demselben Artikel:

„Angeblich wurde das Urteil über Hofrichter bereits gefällt, und zwar auf „Tod durch den Strang. Es wird jedoch bisher streng geheimgehalten und bedarf Bestätigung.“

                                                                                       
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Hofrichter vor dem Wiener Garnisonsgericht.

Zeitgenössische Zeitungsillustration. ©Bildarchiv ÖNB, Wien

Hier verspekulierte sich die öffentliche Meinung. Hofrichter wurde nicht zum Tode verurteilt. Am 28. Mai 1910 wurde vom Obersten Militärgericht folgender Antrag gestellt:

„Beschuldigter soll wegen Verbrechens des Meuchelmordes, des Verbrechens der Mitschuld am Mißbrauche der Amts- und der Dienstgewalt und an der Vorschubleistung des Verbrechens der versuchten Verleitung zum Mißbrauche der Amts- und Dienstgewalt, des Verbrechens des Betruges und des Vergehens der Subordinationsverletzung, bei nicht vorkommenden Ersatzansprüchen, nebst Kassation von der Offizierscharge, Verlust des Militärjubiläumskreuzes und der bosn.herzeg. Erinnerungsmedaille mit schwerem Kerker in der Dauer von zwanzig Jahren, verschärft halbjährig einmal Fasten, hartes Lager an den Fasttagen und dreitägige einsame Absperrung in dunkler Zelle am 12., 13. und 14. November eines jeden Strafjahres bestraft werde.“

Das Urteil wurde einstimmig gefaßt, und das Gericht folgte in allen Punkten der Anklage und der Tatdarstellung, die Hauptmannauditor Kunz in seinem Plädoyer vorgetragen hatte. Das Militärobergericht erklärte es am 24. Juni 1910 für gültig und ordnete seine Veröffentlichung an, die am nächsten Tag mit Rechtsgültigkeit erfolgte.

Hofrichters Tatmotiv war eindeutig die Nichtübernahme in den Generalstab und die Zurückversetzung in den Truppendienst gewesen. Dies hatte ihn schwer gekränkt. Auch war die Aussicht vertan gewesen, seiner Frau das Leben neben einem Generalstabsoffizier zu bieten. Deshalb hatte er sich zu seinem mörderischen Schritt entschlossen und war kurz zu „Charles Francis“ geworden.

Die „Affäre Hofrichter“ war d a s Tagesgespräch in der k.u.k.Monarchie, aber auch die ausländische Presse widmete sich diesem Kriminalfall.

Hofrichter wurde am 27. Juni 1910 in die Militärstrafanstalt Möllersdorf überführt. Am 25. Juni 1930 wäre die Strafe verbüßt gewesen, doch der militärische und politische Zusammenbruch der Monarchie im Jahre 1918 begünstigte auch den Militärhäftling Adolf Hofrichter. Er blieb, nachdem alle anderen Häftlinge geflohen waren, in Möllersdorf und wurde am 08. November 1918 mit einem amtlichen Entlassungsschein in die Freiheit entlassen. Im Mai 1919 wurde er erneut verhaftet, bezog wieder seine alte Zelle und wurde dann im September 1919 endgültig begnadigt. Sein weiterer Lebensweg von seiner endgültigen Entlassung bis zu seinem Tod im Dezember 1945 ist wieder eine eigene Geschichte.

Wie man an diesem Fall sehen kann, war in den Jahren 1909/1910 die Palette der modernen Kriminalistik bereits vorhanden. Gerichtsmediziner, Veterinärmediziner, Chemiker, Schriftsachverständige, Psychiater; nur die technischen Möglichkeiten waren noch nicht so ausgereift wie heute, hundert Jahre später.

Im „Prager Tagblatt“ vom 23. November 1909 stand:“Das Sicherheitsbureau hat auch eine daktyloskopische Untersuchung der braunen Kartonschachteln, in denen sich die mit Zyankali gefüllten Oblaten befanden, und ihrer Hüllen angeordnet. Man verhehlt nicht, daß die Schachteln und Hüllen ein Durcheinander von Fingerabdrücken aufweisen werden, die mindestens vom Absender und Empfänger herrühren, man hofft aber, daß sich auf verschiedenen Schachteln einige identische Spuren finden werden, die mit den im daktyloskopischen Album erhaltenen verglichen werden können. Allerdings ist kaum anzunehmen, daß sich im Album Aufnahmen von Fingerabdrücken des Mörders finden werden, da dieser ja in Kreisen zu suchen ist, in denen daktyloskopische Aufnahmen gewöhnlich nicht vorkommen.“

Von Hofrichter wurden später auch Vergleichsabdrücke genommen, aber das Ergebnis verlief negativ. Natürlich ging er mit Handschuhen zu Werke. Es sollte ja keine Tinte an seinen Fingern nachweisbar sein.

Die Herkunft des Zyankalis, das Hofrichter in den Giftbriefen verschickt hatte, konnte nie geklärt werden.

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Die von Adolf Hofrichter verfaßte Schrift über seine Zeit in Möllersdorf

Faksimile-Nachdruck, ©Stadtmuseum Traiskirchen

Im Jahre 1913, am Vorabend des 1. Weltkrieges, wurde die „Affäre Hofrichter“ von einer ganz anderen Affäre mit größerer Tragweite überschattet: Der Entlarvung des Obersten i. G. Alfred Redl als Topspion der Russen, der auch Informationen an den französischen und italienischen Geheimdienst geliefert hatte.

Nachwort:

Wie kam ich zum Fall Hofrichter? Im Sommer des Jahres 1971, ich war gerade dabei, vom 13. ins 14. Lebensjahr überzuwechseln, las ich meinen ersten Erwachsenen-Roman. Er erschien im Vorabdruck als wöchentlicher Fortsetzungsroman in der Illustrierten „Stern“ und hieß „Der Leutnant und sein Richter“ von Maria Fagyas. Es war ein Tatsachenroman, der sich mit dem Fall Hofrichter beschäftigte. Hofrichter hieß darin Peter Dorfrichter und sein Ankläger hieß Emil Kunze anstatt Jaroslav Kunz. Seitdem hat mich dieser faszinierende historische Kriminalfall nie mehr losgelassen. Am Anfang der achtziger Jahre wurde der Tatsachenroman in einer deutsch-englisch-italienisch-französischen Co-Produktion verfilmt und im ZDF unter dem gleichnamigen Titel ausgestrahlt. Den Hauptmannauditor spielte darin Helmut Griem.

Fast schon vergessen ist, daß sich bereits im Jahre 1974 das ORF dieses Stoffes annahm und über den Fall Hofrichter den Fernsehfilm „Verurteilt 1910“ produzierte. Hier wurde dieser Fall aus der Sicht von Max Winter dargestellt, dem Redakteur der „Arbeiterzeitung“, der damals in seinen Artikeln für Hofrichter eintrat. Den Hauptmannauditor Jaroslav Kunz spielte in dieser Produktion, die sich mehr um Authentizität bemühte, aber trotzdem fiktive Handlungsstränge beinhaltete, Klausjürgen Wussow.

Und mich streifte im Frühjahr 2009 wieder Hofrichters Schatten und bat mich, doch im 100. Jubiläumsjahr über seinen Fall einen Bericht auf meiner Homepage zu bringen. Das tat ich selbstverständlich sehr gerne für ihn (und auch für mich), reiste nach Wien und folgte seinen Spuren. Adolf Hofrichter…mein „Jugendfreund“…

Danksagung:

An erster Stelle bedanke ich mich sehr herzlich bei Mag.Dr. Bernhard Wenning vom Österreichischen Staatsarchiv/Abt. Kriegsarchiv in Wien, ohne dessen Auskünfte und Dissertation (Universität Wien) über die „Affäre Hofrichter“, dieser Bericht in dieser Form nie zustande gekommen wäre.

Mein weiterer Dank geht an zwei mir namentlich nicht bekannte Mitarbeiter vom Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) am Wiener Heldenplatz, die in Windeseile die von mir gewünschten historischen Zeitungsartikel einscannten und auf eine CD brannten.

An dritter Stelle geht natürlich wieder mein besonderer Dank an meinen Lektor M.S.

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Foto (C)Arndt-H. Marx, Hanau

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