„Spur 165“ – Der Mörder kam im grünen Hemd
Der Lorscher Liebespaarmord im Sommer 1968
Am späten Nachmittag des 27.Juli 1968, gegen 16.45 Uhr, wurde in einer Waldschneise bei Lorsch der Vermessungsgehilfe Michael Schreiber (22 Jahre) in der Nähe seines Pkw (weißer Opel-Kadett, polizeiliches Kennzeichen: MA-Y 210) mit schweren Verletzungen am Kopf von Spaziergängern aufgefunden. Sein Oberkörper war nackt und blutverschmiert.
Schreiber war noch bei Bewusstsein und teilte den Spaziergängern mit, dass in der Nähe auch seine Freundin liegen müsse. Er machte zuerst den Eindruck eines Betrunkenen. Tatsächlich fand man anhand einer Schleifspur ca. 30 Meter entfernt in einer Fichtenschonung die Verkäuferin Gudrun Sawitzki (21 Jahre) erschossen auf.
Michael Schreibers Pkw in der Waldschneise (Polizeifoto)
© Copyright: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt
Die Bezeichnung des Tatortes lautete amtlich-korrekt: „Lorscher Wald, 1,5 km südlich Raststätte Lorsch, an der BAB Frankfurt/Main-Mannheim, Distrikt Harzofen, Abt. 106, Lampertheimer Gescheid – Krummschneise“
Der abgesperrte Fundort der Leiche von Gudrun Sawitzki (Polizeifoto)
© Copyright: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt
Der erste Eindruck auf die herbeigerufenen Polizeibeamten war der eines Sexualverbrechens. Der Unterkörper der Toten war ab dem Nabel völlig nackt, doch bedeckte der hochgezogene Rock die linke Gesichtshälfte bis zur Nase. Die Damenstrümpfe waren bis zu den Knöcheln heruntergewickelt.
Die Obduktion wird später feststellen:
Gudrun Sawitzki hatte zwei Kopfschussverletzungen:
- 1 x Einschuß im Bereich der linken Schläfe,
- 1 x Einschuß im Nackenbereich.
Die verwendete Tatmunition war 9-mm-Flobert-Muniton, die aus 9-mm-Arminius-Revolvern oder anderen 9-mm-Revolvern abgefeuert werden kann.
Der schwerverletzte Michael Schreiber wurde nach einer ersten ärztlichen Versorgung im Krankenhaus Heppenheim sofort in die Universitätsklinik Heidelberg transportiert, in der er, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, am 30. Juli 1968 starb.
Bei Schreiber wird die Gerichtsmedizin bei der Obduktion folgende Schussverletzungen feststellen:
1 x links temporal über der Schläfe,
1 x unterhalb des Jochbeins,
1 x in einen Halswirbel.
Die Aufklärung des Doppelmordes bearbeitete eine Sonderkommission, bestehend aus Beamten der Staatlichen Kriminalpolizei Heppenheim und Darmstadt sowie aus Beamten des LKAs Wiesbaden.
Es wurde bald ausgeschlossen, dass es sich bei der Tötung von Gudrun Sawitzki um einen Sexualmord handelte. Eine Vergewaltigung vor ihrer Ermordung war nicht feststellbar. Jedoch ging man von einer Beziehungstat aus. Geschah der Mord aus Eifersucht? Hatten die beiden Opfer ihren Mörder gekannt? Schreiber hatte Verletzungen am Bauch, vermutlich von Fußtritten verursacht; er musste sich heftig gewehrt haben.
Nun ging man daran, den Bekannten- und Freundeskreis des Paares unter die Lupe zu nehmen. In der Handtasche der Ermordeten fand man u. a. ein paar beschriebene Postkarten, die sie noch nicht verschickt hatte. Eine Karte ging in die Türkei, an einen Ali O. Dieser, ein türkischer Gastarbeiter, wohnhaft in Weinheim, war schon polizeibekannt wegen mehrmaligen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und wegen einer Bedrohungssache; er hatte einer Frau in Rimbach mit „Totstechen und Ohrabschneiden“ gedroht gehabt, falls sie seine Liebe nicht erwidere.
Am Tatort wurden auch Patronenhülsen gesucht. Hier kam es zu einer polizeihistorisch sehr interessanten logistischen Unterstützung durch die US-Armee.
Ein Kriminalobermeister der Staatlichen Kriminalabteilung in Viernheim setzte sich am 28.07.1968 mit dem Chef der amerikanischen Kriminalpolizei (CID) der US-Stationierungsstreitkräfte, Mr. Mayfield, in Verbindung mit dem Ersuchen, eine qualifizierte Fachkraft mit Minensuchgerät zur Verfügung zu erhalten; es sei nicht auszuschließen, dass am Tatort noch Patronenhülsen gefunden werden könnten.
Dem Ersuchen wurde stattgegeben. Der Tatort wurde am 29.07.1968 in der Zeit von 10.15 Uhr bis 14.20 Uhr in Anwesenheit von Mr. Mayfield und des Viernheimer Kriminalbeamten durch Sgt. West mit einem Minensuchgerät abgesucht. Um festzustellen, ob das Gerät auf Hülsen reagiert und sie anzeigt, wurde von dem Viernheimer Kriminalbeamten ein Schuss abgegeben. Das Minensuchgerät zeigte den Hülsenfund deutlich an. Im dazugehörigen Bericht heißt es weiter:
„Der Tatort wurde insbesondere in der Umgebung des Fundortes der Leiche Sawitzki, aber auch in der Umgebung der Auffindungsstelle des verletzten Schreiber intensiv mit dem Minensuchgerät abgesucht. Die 4 Stunden und 5 Minuten währende Suche, an der sich auch 2 Beamte des HLKA Wiesbaden mit einem Minensuchgerät beteiligten, das im Gegensatz zu dem von der CID gestellten modernen Gerät ohne Differenzierung auch auf Basalt ansprach, verlief mit negativem Resultat. Es wurden lediglich metallische Gegenstände, wie z. B. Splitter von Flak-Granaten aus dem letzten Weltkrieg, aufgefunden. Alle Fundstellen wurden vom Unterzeichner vermessen und in einer Skizze festgehalten. Am Tatort konnten keinerlei Patronenhülsen aufgefunden werden.“
Irgendwie erinnert dies an eine Szene aus der STAHLNETZ-Folge „Ein Toter zuviel“ aus dem Jahre 1968, in der ein Beamter des CID von Frankfurt nach Köln eingeflogen wurde, um die dortigen Beamten bei der Erstellung eines Phantombildes mit dem Identikit-Verfahren zu unterstützen.
Doch nun zurück zu unserem Fall…
Die Kripo rekonstruierte, dass Gudrun Sawitzki am Samstag, dem 27.07.1968, gegen 13.20 Uhr das Kaufhaus Birkenmaier in Weinheim, in dem sie arbeitete, verlassen hatte. Arbeitskolleginnen gegenüber äußerte sie, dass sie baden gehen wolle. Danach traf sie im Weinheimer „Burgcafe“ auf Michael Schreiber. Dieser benutzte den weißen Opel-Kadett seines Vaters, um nach Weinheim zu fahren. Auch er hatte seinem Vater gegenüber geäußert, dass er baden fahren wolle. Mit Gudrun Sawitzki fuhr Schreiber zusammen auf die Starkenburg, in der es ein Cafe gab, in dem die Sawitzki früher einmal als Bedienung gearbeitet hatte. Das Paar hielt sich nach Zeugenaussagen bis ca. 15.30 Uhr im Cafe auf der Starkenburg auf. Zwischen 15.40 Uhr und 15.55 Uhr überquerte Schreiber mit dem Pkw in Begleitung des Mädchens die Autobahnüberführung im Lorscher Wald (Lampertheimer Gescheid). Sie wurden dort von Zeugen gesehen. Ca. 400 m von den Zeugen entfernt, rasteten sie dort auf einer Grünfläche. Etwa 1 Stunde später wurden dann die beiden Opfer und der abgestellte Pkw aufgefunden.
Durch die Aufrufe in den Medien meldeten sich viele Zeugen (Spaziergänger, Reiter), die am 27.07.1968 in der Umgebung des Tatortes ihre Beobachtungen gemacht hatten. So wollten Zeugen gegen 15.30 Uhr einen jungen Mann auf dem Waldweg gesehen haben, auf dem Schreibers Wagen stand. Er soll 1,70 m groß gewesen sein, 25 – 30 Jahre alt, mittelblondes Haar gehabt haben, eine dunkle Hose und ein hellblaues Hemd getragen haben und soll in einen anderen Waldweg abgebogen sein, als er die Zeugen kommen sah.
Außerdem verfolgte die Soko jetzt auch die „Spur 5“. Es ging hier um den türkischen Gastarbeiter Ali O. Nicht nur eine an ihn adressierte Postkarte wurde in der Handtasche von Gudrun Sawitzki gefunden, sondern auch seine Adresse in ihrem Taschenkalender. Von Arbeitskollegen und Bekannten der Sawitzki erfuhr die Kripo, dass sie mit Ali O. einmal ein Verhältnis gehabt hatte. Auch soll O. einige Zeit vor der Tat in der Nähe des Kaufhauses, in der Gudrun Sawitzki gearbeitet hatte, gesehen worden sein. Bekannte und Arbeitskollegen von ihm sagten bei der Kripo aus, dass sie ihn einmal nach der Sawitzki befragt hatten. Er habe erklärt gehabt, das Mädchen sei nicht mehr mit ihm zusammen und habe jetzt einen deutschen Freund.
Im Beisein eines vereidigten türkischen Dolmetschers wurde der Gastarbeiter vernommen. Er verwickelte sich in Widersprüche und weigerte sich beharrlich zuzugeben, dass er Gudrun Sawitzki persönlich gekannt hatte. Dies, obwohl noch ein Foto von ihr bei ihm gefunden wurde und trotz einer Gegenüberstellung mit Zeugen, die ihn früher zusammen mit der Sawitzki gesehen hatten. Er sagte, das Foto des Opfers würde dem Mädchen, das er einmal gekannt hatte, nicht ähnlich sehen. Auch hatte er für die Tatzeit kein Alibi. Als er sich auch weiterhin in Widersprüche verwickelte und die Bekanntschaft mit der Sawitzki leugnete, wurde er wegen dringenden Tatverdachts in Untersuchungshaft genommen. Mögliches Tatmotiv: Eifersucht.
Im Abschlussbericht der Kripo wird später u.a. stehen:
„Gudrun Sawitzki, deren Männerbekanntschaften häufig gewechselt haben sollen, unterhielt nach Angaben von Arbeitskolleginnen ein Freundschaftsverhältnis mit Michael Schreiber. Zu Ausländern (Gastarbeitern) soll sie gleichfalls Beziehungen unterhalten haben, so z. B. zu dem türkischen Gastarbeiter Ali O., dessen Anschrift sie u.a. auch in ihrem Taschenkalender hatte“.
Doch die Kripo verfolgte auch andere Spuren. So die Beobachtungen einer Familie, die dann als „Spur 165“ in die Ermittlungsakten Eingang fand. Am 03.08.1968 meldete sich der Zeuge R. bei der Kripo in Heppenheim und sagte aus, dass er am 27.07.1968, als er mit seiner Familie im Lorscher Wald mit den Fahrrädern unterwegs war, einen Radfahrer bemerkte, der von der Harzofen-Schneise auf das Lampertheimer Gescheid einbog und dann weiter über die BAB-Brücke fuhr. Er beschrieb den Mann wie folgt: Zwischen 30 - 35 Jahre alt, etwa 173 cm groß, kräftige Figur, mittelblondes, gewelltes, leicht krauses Haar, derbes männliches Gesicht, leicht gebräunt. Um den Hals habe er ein Fernglas hängen gehabt. Er habe den Eindruck eines Jagd- oder Forstaufsehers gemacht. Bekleidet sei die Person mit einem grünlichen Hemd gewesen, wie es von Jägern getragen wird; die Ärmel seien hochgekrempelt gewesen. Die Farbe der Hose sei etwa im Farbton des Hemdes gewesen, nur etwas dunkler. Der Mann sei auf einem alten, dunklen bis schwarzen Herrenfahrrad gefahren. Auf dem Gepäckträger habe er eine dunkle, ausgebeulte Tasche gehabt, eine Art Adidas-Tasche oder eine Tasche, wie sie von Fluggesellschaften benutzt wird. Sie sei ohne Beschriftung gewesen. Nach Aussage des Zeugen R. kam der Radfahrer etwa 10 Minuten später auf dem selben Weg zurück, den er bei seiner Hinfahrt genommen hatte. Er bog, von der BAB-Brücke kommend, vom Lampertheimer Gescheid in die Harzofen-Schneise ab.
Doch diesmal fiel dem Zeugen der hektische Gesichtsausdruck des Radfahrers auf. Es hatte den Anschein, als ob er bei irgendetwas überrascht worden sei oder verfolgt werde. Außerdem war es ungewöhnlich, dass der Mann, im Gegensatz zu vorher, einen dunkelblauen, abgesteppten Anorak trug, trotz des heißen Sommerwetters. Auch hatte er jetzt nicht mehr das Fernglas umgehängt. Dies war zwischen 16.10 Uhr und 16.30 Uhr.
Dem Zeugen wurden Fotos des Verdächtigen Ali O. vorgelegt. Der Zeuge sagte aus, dass O. nicht der Radfahrer sei, den er im Wald gesehen hatte.
Trotz wiederholter Presseveröffentlichungen, wonach sich alle Personen melden sollten, die sich um die Tatzeit in dem betreffenden Waldgebiet aufgehalten hatten, hatte sich der unbekannte Radfahrer bisher nicht bei der Polizei gemeldet.
Am Montag, dem 05. August 1968 erfolgte erstmals in der Presse der Hinweis auf den Radfahrer; er wurde gebeten, sich bei der Polizei zu melden. Noch am selben Tag wurden PIK(Personen-Identifizierungs-Kartei)-Bilder des Radfahrers auf Plakaten in der Öffentlichkeit ausgehängt. Am 06.08.1968 wurden die PIK-Bilder in der Presse veröffentlicht. Außerdem wurde am 05.08.1968 mit Lautsprecherdurchsagen im Raum Bensheim-Lorsch-Heppenheim nach dem unbekannten Radfahrer gefahndet.
PIK-Bild des unbekannten Radfahrers im grünen Hemd
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Doch am 05. August 1968 erschien der Spengler und Familienvater Hans W. auf der Kripo-Dienststelle in Heppenheim. Er erklärte den Beamten, dass er der gesuchte Radfahrer sei, und wurde daraufhin als Zeuge vernommen. Die Frau des Zeugen R. wurde herbeigeholt und W. gegenübergestellt. Frau R. bestätigte, dass W. der Radfahrer sei, der von ihr und ihrem Mann am 27.07.1968 im Wald beobachtet worden war.
W. bestätigte, dass er um die fragliche Zeit über die bewusste Autobahnbrücke im Lorscher Wald gefahren und nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder zurückgekehrt sei. Er gab weiterhin an, er habe sich auf einer Spazierfahrt befunden, um „frische Luft zu schöpfen“. Auch konnte er sich an die Zeugin R. erinnern.
Erst nach einigen Vorhalten, er müsse westlich der Autobahnbrücke bei seiner Rückfahrt irgendwelche Personen oder Fahrzeuge gesehen haben, erinnerte er sich, den weißen Opel-Kadett in einer Nebenschneise gesehen zu haben. Es fiel den Beamten auf, dass W. auf Anhieb nicht nur sagen konnte, dass das polizeiliche Kennzeichen die Blockbuchstaben „MA“ enthalten hatte, sondern auch, dass in dem Fahrzeug niemand gesessen hatte; vom Rückfenster aus konnte durch das Kfz hindurchgesehen werden. Die Beamten schlussfolgerten daraus, dass W. bewusst und ziemlich genau nach dem Pkw gesehen hatte.
W. gab weiterhin an, dass er zwischen 16.15 Uhr oder 16.30 Uhr an dem Pkw vorbeigefahren sei. Sonstige Wahrnehmungen will er nicht gemacht haben. Weiter gab er an, er sei dann zurück in östlicher Richtung über die Autobahnüberführung gefahren und in die Harzofenschneise eingebogen, um von der Straße Hüttenfeld-Lorsch über die Weschnitzwiesen zwischen Heppenheim und Lorsch nach Hause zu fahren.
W. konnte sich auch erinnern, dass ihm auf der Rückfahrt an der Autobahnbrückenauffahrt 2 Reiter begegneten. W. wurde von den vernehmenden Beamten jedoch nicht speziell nach diesen Reitern befragt.
Daraufhin wurde von der Polizei im Beisein von W. der von ihm damals befahrene Spazierweg abgefahren, um in ihm weitere Erinnerungen an Beobachtungen zu wecken. Auch händigte er, obwohl zu diesem Zeitpunkt kein konkreter Tatverdacht gegen ihn vorlag, den Beamten die Kleidung aus, die er an jenem Tag im Lorscher Wald getragen haben will.
Weiterhin erklärte er sich bereit, sich von einem Amtsarzt untersuchen zu lassen. Er sollte daraufhin einen Tag später, am 06.08.1968, auf dem Gesundheitsamt in Heppenheim erscheinen.
Zeitgleich mit der Vernehmung des W. wurde auch seine herbeigeholte Ehefrau vernommen. W. wurde um 20.45 Uhr nach Hause entlassen, da sich kein dringender Tatverdacht ergeben hatte. Sein ganzes Verhalten war absolut ruhig und gelassen.
Dann, einen Tag später, am Dienstag, dem 06.08.1968, wurde die Kripo-Dienststelle in Heppenheim darüber informiert, dass der Zeuge W. sich in den frühen Morgenstunden, vermutlich kurz vor 7.00 Uhr, zwischen Bensheim und Heppenheim von einem Zug hatte überfahren lassen.
Bei seiner Leiche wurde ein Abschiedsbrief gefunden, aus dem u.a. ersichtlich wurde, dass er es nicht ertragen konnte, in den Verdacht eines Mordes zu kommen.
Seine Angehörigen konnten es sich nicht erklären, aus welchem Grund sich der Ehemann und Vater das Leben genommen hatte.
Daraufhin wurde am 06.08.68 die Wohnung von W. durchsucht. Im Aschenfach des Waschkesselofens in der Waschküche wurden 3 Flobert-Patronenhülsen, Kaliber 9 mm gefunden.
Die Munition wurde zum BKA nach Wiesbaden geschickt. Dort wurde festgestellt, dass es sich bei der einen Hülse um eine Flobert-Schrotpatrone und bei den beiden anderen um Rundkugelpatronen handelte.
Bei der Hausdurchsuchung wurden nur noch ein Luftgewehr und mehrere 6-mm-Patronenhülsen sichergestellt, jedoch ansonsten keine Waffen gefunden.
Nun lag es nahe, dass W. deshalb Selbstmord begangen hatte, weil er selbst die Tat begangen hatte. Die beiden Opfer waren schließlich mit Flobert-Munition, Kaliber 9 mm ermordet worden.
Zwischendurch bleibt zu bemerken, dass Ali O. weiterhin in U-Haft saß und die Bekanntschaft zur Sawitzki nach wie vor leugnete.
Im Zuge der Ermittlungen wurde weiterhin festgestellt, dass W. in Heppenheim einen guten Ruf genossen hatte. Er galt als ruhiger, fleißiger und ordentlicher Mann, der für seine Familie gesorgt hatte. Er hatte die Natur geliebt, war gerne angeln gegangen und hatte sich auch als Treiber bei Jagden betätigt. Aber durch Befragungen im Bekannten- und Kollegenkreis wurde auch festgestellt, dass er leicht erregbar gewesen war und zum Jähzorn geneigt hatte. Er soll schnell auf „99“ gewesen sein. Allgemein wurde er als Sonderling bezeichnet. Einer Nachbarin war er sogar unheimlich gewesen. Seine Verhaltensweisen sollen sich nach einem Arbeitsunfall im Jahre 1957, bei dem er sich einen Schädelbasisbruch zugezogen hatte, verändert haben. Seine Frau wiederum erklärte, dass sie keine abnormen Verhaltensweisen an ihrem Mann beobachtet gehabt habe und dass er nur wiederholt über Kopfschmerzen geklagt habe. Auch am 27.07.1968, dem Mordtag, habe sich ihr Mann in keiner Weise verändert gezeigt. Im Verlauf der weiteren Ermittungen wurde festgestellt, dass W. bei Arbeitskollegen oft davon erzählt hatte, dass er im Wald Liebespaare „belure“, sich also als „Spanner“ betätige. Auch äußerte er sich gegenüber einem Arbeitskollegen im April 1968, dass er im Besitz einer -vermutlich abgesägten - 9-mm-Flobert-Waffe sei.
Die Kripo rekonstruierte noch einmal den Weg, den W. an diesem Tag gefahren haben will, und verglich seine Schilderungen mit den Aussagen verschiedener Zeugen. Die Angaben von W. stimmten nicht, da er einigen dieser Zeugen hätte begegnet sein müssen. So den beiden Reitern, die W. gesehen haben wollte. Einer der Reiter hatte W.gekannt und hätte sich daran erinnert, wenn er ihm begegnet wäre. Es liegt daher nahe, dass sich W. auf seinem Rückweg vor den Reitern hinter einem Busch versteckt hatte.
Mysteriös war auch die Sache mit dem von W. benutzten Fahrrad. Während er von zu Hause immer mit einem roten Damenfahrrad weg- und auch wieder zurückfuhr, wurde er im Wald auf einem dunklen Herrenfahrrad gesehen. Die Kripo nahm an, dass er zur Tarnung sein Fahrrad unterwegs gewechselt hatte.
Am 05.08.1968 fand der Sohn des Landwirtes Josef H. in der Feldscheune seines Vaters außerhalb von Lorsch ein Herrenfahrrad.
Das in einer Feldscheune bei Lorsch gefundene Herrenfahrrad (Polizeifoto)
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Nach Aussagen des Zeugen R. könnte es das von W. benutzte Fahrrad gewesen sein. Es konnte jedoch nicht ermittelt werden, wo dieses Rad gestohlen worden war. Ob es tatsächlich vom Mörder benutzt worden war, wird eine der offenen Fragen dieses Falles bleiben.
Fieberhaft wurde auch nach der Mordwaffe gesucht. Während die Zeugen W. mit einer dunklen Adidas-Tasche auf dem Gepäckträger gesehen haben wollen, sagten seine Angehörigen aus, so eine Tasche nie bei W. gesehen zu haben. Dies wiederum widersprach den Aussagen von Arbeitskollegen, die gesehen hatten, dass W. mit solch einer Sporttasche zur Arbeit gekommen war.
Am 08.08.1968 wurde das Waldstück, in dem der Doppelmord stattgefunden hatte, von Kräften der I. Abtlg. der Hessischen Bereitschaftspolizei aus Mühlheim/Main noch einmal abgesucht, auch unter Anwendung der Förstersonde. Die Suche verlief ergebnislos.
Einsatz der Förstersonde. (Screenshot aus der “Kommissar Freytag”-Folge: “Rendezvous am Rabenkopf”)
Am 13.08.1968 wurde noch nach der Mordwaffe gesucht, und zwar auf dem Grundstück von W. Diesmal wieder mit der logistischen Unterstützung der US-Armee. Zwei Soldaten suchten mit einem Minensuchgerät nach der Mordwaffe. Wieder ohne Ergebnis.
Die Mordwaffe bleibt bis auf den heutigen Tag verschwunden.
Im Labor des LKA Wiesbaden wurde festgestellt, dass sich am Ärmel-bündchen des Anoraks von W. Stofffasern befunden hatten, die in Farbe, Pigmentierung und Struktur den Fasern des Kleides der ermordeten Gudrun Sawitzki entsprachen. Bei einer Hausdurchsuchung bei W. wurden keine Stoffe gefunden, die mit den vorgefundenen Stofffasern identisch waren.
Nach den zusammengetragenen Ermittlungsergebnissen stand für die Soko fest, dass W. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Täter war.
Im Bericht heißt es abschließend über das Motiv:
„Es erscheint unwahrscheinlich, dass W. seine Spazierfahrt nutzte, um zu morden, vielmehr kann angenommen werden, dass er sich als Spanner betätigte, von Schreiber gestellt wurde, und es so zur tätlichen Auseinandersetzung kam, in deren Verlauf Schreiber durch Verletzungen am Bauch (Fußtritte ?) kampfunfähig wurde, so dass dann die Schüsse angebracht werden konnten.
Möglicherweise wurde Gudrun Sawitzki nur getötet, um eine Tatzeugin zu beseitigen.
Es haben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, dass das Mädchen geschlechtlich missbraucht worden ist. Ihre Bekleidung ist unbeschädigt, was nicht der Fall wäre, würden dem Mädchen die Kleider mit Gewalt ausgezogen worden sein.“
Einige Tage nach dem Selbstmord von W. wurde der türkische Gastarbeiter Ali O. aus der U-Haft entlassen. Gründe:
„Der gegen den Beschuldigten O. zunächst vorhanden gewesene dringende Tatverdacht, an der Ermordung der Gudrun Sawitzki und des Michael Schreiber mindestens beteiligt gewesen zu sein, hat sich durch die weiteren Ermittlungen nicht bestätigt. O. stand zwar entgegen seinen über einen langen Zeitraum hartnäckig aufrechterhaltenen, schließlich aber aufgegebenen Behauptungen jahrelang zu der Ermordeten Gudrun Sawitzki in einem nahen Verhältnis. Die weitere Nachprüfung der Spuren hat aber keine Anhaltspunkte dafür erbracht, dass O. mit der Tat in Verbindung stehe. Insbesondere haben sich keine Hinweise darauf ergeben, dass der Beschuldigte O. zum Tatort gefahren sei und eine Waffe, wie sie zu dem Doppelmord verwandt worden ist, im Besitz gehabt hatte.“
Die Mordwaffe, wahrscheinlich verpackt in der dunklen Sporttasche, befindet sich noch heute im Raum Lorsch-Bensheim-Heppenheim in einem der großen Waldgebiete, im Flusslauf der Weschnitz oder in einem der Baggerlöcher.
Das Geheimnis ihres Versteckes, irgendwo im südlichen Odenwald, hat W., der Mörder im grünen Hemd, mit in sein Grab genommen.
Schlussbemerkung:
Die Akten über den Lorscher Doppelmord befinden sich seit 1999 im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt und sind nach wie vorher mit einer Schutzfrist belegt.
Aus diesem Grunde habe ich die Nachnamen der Zeugen, des ersten Tatverdächtigen und (mit Rücksicht auf dessen Hinterbliebene) des mutmaßlichen Täters – anders die Namen der beiden Opfer - mit dem Anfangsbuchstaben abgekürzt.
Danksagung:
Ich bedanke mich herzlich bei Herrn Dr. Maaß vom Hessischen Staatsarchiv Darmstadt für die Genehmigung meines Schutzfristenverkürzungsantrages und der damit verbundenen Einsichtnahme in die Ermittlungsakten. Besonderen Dank auch für die 4 Polizeifotos aus der zu den Ermittlungsakten gehörenden Bildmappe.
Mein weiterer Dank geht an meinen Lektor M. S.
Kriminalhistorische Zusatzinformation
PIK- und Identikitverfahren
In den sechziger Jahren entwickelte der damals 36jährige Kriminalmeister Moritz Furtmayr aus Viernheim (Hessen) die Personen-Identifizierungs-Kartei, kurz PIK genannt. Im Jahre 1965 wurde seine Erfindung patentiert.
Die PIK bestand (Stand 1968) aus 1000 Papierstreifen, wie z. B. Stirn mit Haaransatz, Augenpartie, Mundpartie und Kinnpartie. Für jede Partie gab es 20 Grundtypen, von denen jede zehnfach abgewandelt wurde.
Es ergaben sich daraus 200 Legearten, die 320 Milliarden Kombinationsmöglichkeiten ermöglichten.
Seine Konkurrenz hatte Furtmayr durch den Amerikaner McDonald, der in den USA das Identikit-Verfahren entwickelte. Im Gegensatz zu den Papp-Platten des PIK wird beim Identikit mit Folien gearbeitet. Es bestand damals aus 520 Teilen, mit denen verschiedene Gesichtsteile in verschiedene vorgezeichnete Kopfformen projiziert wurden.
Identikit-Bild
(Screenshot aus der STAHLNETZ-Folge: „Ein Toter zuviel“)
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