Die folgende Reportage ist Eduard Zimmermann 04.02.1929 – 19.09.2009 in memoriam gewidmet.
Der Unhold von Günzburg
1968 – Der Fall „Adlerwirtin“
Günzburg in Bayerisch-Schwaben, Samstag, 30. März 1968. An diesem Tag herrschte bereits ein sommerliches Klima. In der sogenannten Unterstadt am Fuße des Stadtberges und dort in der Ulmer Str. 6 befand (und befindet sich auch heute noch) die Gaststätte „Zum Adler“. Sie wurde damals schon seit 33 Jahren von dem Ehepaar Albert und Philomena K. in Pacht betrieben. Die alten Eheleute waren allseits beliebt und geachtet und hatten aus dem Umsatz der Gaststätte ihr mäßiges Auskommen. Der Umsatz schwankte zwischen 800 und 1000 DM im Monat.
In der Wirtschaft verkehrten hauptsächlich Schützen und Jägerkollegen von Herrn K. sowie Geschäftsleute und Patienten des Nervenkrankenhauses Günzburg. Die Patienten nahmen hier an ihren freien Samstagen und Sonntagen gelegentlich ein Bier zu sich. Ab und zu kamen auch Gelegenheitsgäste in den „Adler“, allerdings kaum junge Leute.
Die Inneneinrichtung der Gaststätte wird später im Tatort-Befund wie folgt beschrieben:
„Tatort im engeren Sinne ist die 8 x 4,5 m große Gaststube des „Adler“ im Parterre, rechts des Einganges. Sie wird erreicht von der Ulmer Straße durch die Haustüre, den Flur mit einer Zwischen-Flügeltüre, nach der sich rechts die Türe zum Gastzimmer befindet. Ein weiterer Zugang zur Gaststube befindet sich an der Nordfront von der Küche her. Die Gaststube hat drei Fenster nach Südosten zum Bauernhof H. Richtung Stadtberg und zwei weitere Fenster nach Westen hin zur Ulmer Straße.
Die Einrichtung dieser Gaststube besteht im wesentlichen aus 5 Wirtshaustischen – zwei davon mit heller Tischdecke – einer an der Wand umlaufenden Sitzbank, einer Schanktheke mit einem kleinen Glasaufsatz, einem kleinen Büfett mit Aufsatz neben der Tür zur Küche und daneben einem Ölofen.“
Tatort-Grundriss der Stadtpolizei Günzburg
©Copyright: Kriminalpolizei Neu-Ulm
An besagtem Samstag, dem 30. März 1968 gegen 14.10 Uhr hatte eine 9jährige Schülerin im Auftrag ihrer Mutter bei der Adlerwirtin noch eine Flasche Sprudel und zwei Flaschen Bier gekauft. Frau K. war zu dieser Zeit alleine in der Gaststube. Gegen 14.45 Uhr verließ der Adlerwirt, Herr K., das Haus, um einen Spaziergang zu seiner Aushilfsbedienung Franziska Z. zu unternehmen. Herr K. wollte gegen 16.30 Uhr wieder zurück sein. Frau K. hatte wahrscheinlich in der Zwischenzeit den Hausflur gewischt und leerte auf dem Gehweg den Putzeimer aus. Dabei wurde sie ebenfalls gegen 14.45 Uhr von der Nachbarin Colette B. beobachtet, die im Haus schräg gegenüber mit Putzarbeiten beschäftigt war. Frau B. grüßte die Adlerwirtin und sprach sie an, aber Frau K. winkte nur mit der Hand, da der Verkehrslärm sehr laut und eine Verständigung nicht möglich war. Die Adlerwirtin ging ins Haus zurück. Es war das letzte Mal, dass die Zeugin Colette B. ihre 71jährige Nachbarin Frau K. lebend gesehen hatte. Das Winken der Adlerwirtin war wie ein Abschiedsgruß.
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Die Gaststätte „Zum Adler“ im November 2009. An der rechten Seite unterhalb des Gaststättenschildes die Front der drei Fenster zur Gaststube. Die Fenster wurden in der Zwischenzeit erneuert. Die Wirtschschaft hat heute einen türkischen Pächter.
©Copyright: Arndt-Heinz Marx, Hanau
Etwa zu dieser Zeit, zwischen 14.45 Uhr und 15.00 Uhr, muss dann der Tod in Gestalt eines seltsamen Fremden mit verkrüppeltem kleinen Finger der linken Hand in der Gaststätte „Zum Adler“ Einkehr gehalten haben.
Gegen 15.00 Uhr ging das Ehepaar W. mit seinem Kind auf dem Gehweg direkt am Gasthaus „Adler“ vorbei. Ihnen fiel auf, dass an zweien der drei Fenster der Gaststätte je ein Fensterflügel geöffnet war. Durch den offenen Flügel des Fensters, das am nächsten zur Straße lag, sahen sie Frau K. sitzen. Ihr Kopf war zum Tisch gebeugt; es sah so aus, als ob sie etwas lesen würde. Durch den offenen Fensterflügel des zweiten Fensters sahen die Spaziergänger einen fremden Mann sitzen. Er zeigte seine rechte Gesichtshälfte, saß also mit dem Rücken zu Frau K. Beim Vorbeigehen wandte der fremde Wirtshausgast dann der Zeugin W. sein Gesicht zu, so dass sie ihm voll ins Antlitz schauen konnte. Sie beschrieb ihn später wie folgt:
„ca. 35, höchstens 40 Jahre alt, blasses Gesicht, dunkles, glatt nach hinten gekämmtes Haar, bekleidet mit hellem Hemd, dunkler Oberbekleidung, welcher Art ist ihr nicht bekannt.“
Ebenfalls um 15.00 Uhr sah die Zeugin Helena H. aus dem Fenster ihrer Wohnung zur Ulmer Straße hin. Dabei fiel ihr ein unbekannter Mann auf, der an der Ecke der Adler-Gaststätte am Vereins-Aushängekasten stand. Er fiel ihr deshalb auf, weil er einen hellen Hut mit unpassender breiter Krempe trug. Er war ca. 40 Jahre alt, ca. 175 cm groß und hager. Weil er sich komisch verhielt und wegen seiner unpassenden Kleidung vermutete die Zeugin in ihm einen Patienten des Günzburger Nervenkrankenhauses. Denselben Mann sah sie später gegen 15.30 Uhr noch einmal am „Adler“ vorbeigehen, als sich vor der Gaststätte bereits ein Menschenauflauf befand.
Die Gaststätte aus Richtung Stadtberg fotografiert. Man beachte die Fensterfront unterhalb des Gaststättenschildes. Dahinter spielte sich damals die grausige Tat ab. Die Straße ist auch heute noch stark befahren.
©Copyright: Arndt-Heinz Marx, Hanau
Gegen 15.10 Uhr wollte Hans L. nach einem Spaziergang im „Adler“ ein Bier trinken. An der Hauswand neben der Eingangstür zur Gaststätte sah der Zeuge ein silbernes Damenfahrrad stehen. Er dachte deshalb, er werde in der Gaststätte einen weiteren Gast antreffen, mit dem er sich beim Bier unterhalten könne. Jedoch fand er die Eingangstür zur Wirtschaft verschlossen und ging weiter.
Es war ca. 15.15 Uhr, als die 13jährige Nachbarstochter Erna H. nach einer Autofahrt mit ihrer Tante im „Adler“ noch etwas zum Trinken holen wollte. Als sie die Haustür zur Gaststätte öffnen wollte, schien diese versperrt zu sein. Das Kind startete zwei Minuten später einen zweiten Versuch, die Tür zu öffnen - wieder ohne Erfolg. Erna H. ging dann zur südöstlichen Giebelseite der Gaststätte und rief die Namen von Herrn und Frau K. Sie sah, dass am ersten und zweiten Fenster der Gaststube je ein Fensterflügel geöffnet war, doch es meldete sich niemand auf ihr Rufen und sie sah auch niemanden in der Gaststube. Die Nachbarstochter klopfte gegen das Küchenfenster des „Adlers“, das sie vom landwirtschaft-lichen Anwesen ihrer Großeltern aus erreichen konnte. Als sie vom Fenster zurücktrat, hörte sie ein Geräusch, als ob in der Gaststube ein Stuhl gerückt würde. Wenig später, als dann auch noch ihre Schwester Ingrid H. zur Haustüre des „Adler“ ging, stand diese einen Spalt offen. Ingrid und Erna gingen zusammen in den Flur des „Adlers“, wo sie die angebrachte Glocke für die Gassenschenke betätigten. Als sich daraufhin niemand meldete und auch auf ihr Rufen niemand reagierte, verließen sie die Gaststätte wieder, nachdem sie noch einen kurzen Blick in den dahinterliegenden Zwischenflur geworfen hatten.
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Die Eingangstür zu der Gaststätte, vermutlich dieselbe wie vor 42 Jahren.
©Copyright: Arndt-Heinz Marx, Hanau
Auch der griechische Gastarbeiter Pantelis S., der im Hof der Familie H., also in direkter Nachbarschaft des „Adlers“, gerade seinen Wagen polierte, hörte in der Zeit zwischen 15.20 Uhr und 15.30 Uhr aus dem „Adler“ ein merkwürdiges Geräusch. Es klang wie Stöhnen. Es folgte zweimal ein dumpfer Laut der wie „ähh, ähh!“ klang. Der Grieche meinte, es könne auch ein Geräusch wie ein Stuhlrücken gewesen sein, er konnte es nicht klar definieren. Er hatte sich an diese Wahrnehmung erst wieder erinnert, als wenig später das begangene Verbrechen bekannt wurde. Die sprachliche Verständigung mit dem Zeugen war dermaßen schlecht, dass zu seiner Vernehmung ein Dolmetscher hinzugezogen werden musste.
Es war dann gegen 15.30 Uhr, als Frau Magdalena M. zum „Adler“ ging, um sich eine Flasche Bier zu kaufen. Sie hatte in ihrer Wohnung die Fenster geputzt und wegen der warmen Witterung Durst bekommen. Sie ging durch die Hautür, die verschlossen aber nicht mehr versperrt war, und läutete die Glocke im Flur. Als sich niemand meldete, rief sie nach Frau K., doch auch hierauf rührte sich niemand. Die Tür zur rechts liegenden Gaststube stand offen, und Frau M. konnte sehen, dass der linke Flügel des Fensters gegenüber geöffnet war. Auf dem Tisch vor dem Fenster lag eine ausgebreitete Zeitung. Frau M. betrat die Gaststube und rief noch einmal nach Frau K. Als sie dann ein paar Schritte weiter in Richtung Theke ging, erstarrte sie vor Schreck. Links von der Theke, mit dem Kopf zur Küche, lag Frau K. mit entblößtem Körper rücklings auf dem Boden. Frau M. rief noch einmal Frau K. beim Namen, aber als diese nicht reagierte, ging sie zu einem Nachbarn, der telefonisch einen Arzt und einen Sanitätswagen des BRK (Bayerisches Rotes Kreuz) verständigte. Frau M. dachte, Frau K. sei beim Waschen ausgerutscht und hingefallen.
Der Fahrer des Sanka, Günter K., wurde gegen 15.45 Uhr verständigt. Zusammen mit dem Beifahrer Josef L. traf er dann 6 bis 7 Minuten nach der Benachrichtigung vor dem „Adler“ ein. Ihm fiel auf, dass sich vor der Gaststätte schon eine kleine Menschenmenge versammelt hatte. Als er die Gaststube betrat und Frau K. dort auf dem Rücken liegen sah, bot sich ihm folgender Anblick:
„Frau K. war von oben angefangen von den Brüsten bis nach unten vollkommen entkleidet und nackt. Die Bluse und der Unterrock waren über die Brüste hochgeschoben, während das Korsett, das die Frau getragen hat, links neben ihr auf dem Boden lag. Der Oberrock lag in der Fußgegend, war also buchstäblich ausgezogen, und der Schlüpfer hing noch in Höhe des rechten Fußgelenks bzw. am rechten Knöchel.“
Der Sanitäter bemerkte Blutflecke über der rechten Augenbraue, hinlaufend zum rechten Nasenrücken. An der linken Brustwarze fiel ihm eine Art Bisswunde auf und an der rechten Brust mehrere kreisförmig blutunterlaufene Merkmale. Am Nabel und auf den Brüsten waren ein paar kreisförmige Verletzungen. Er untersuchte Frau K., ob sie noch lebte; sie war jedoch bereits tot. Da Günter K. sofort bemerkte, dass hier ein Gewaltverbrechen vorlag, benach-richtigte er die Stadtpolizei Günzburg und forderte sie auf, den Arzt vom Dienst, Doktor S., anzurufen. Dr. S. erschien dann rasch am Tatort und konnte ebenfalls nur noch den Tod der Adlerwirtin feststellen. Ihm fielen an der Leiche Würgemale nahe der Halsgegend bzw. am unteren Halsansatz auf und in der Schambeingegend die gleichen Verletzungen, wie sie bereits an der Brust der Toten festgestellt worden waren. Dr. S und der Sanitäter Günter K. kamen noch am Tatort zu der Ansicht, dass die Verletzungen Bisswunden waren.
Die Kunde von dem Verbrechen ging wie ein Lauffeuer durch die Nachbarschaft. Binnen weniger Minuten kam es zu einem Menschenauflauf vor der Gaststätte „Zum Adler“, der sich aber bald ohne Störungen wieder auflöste.
Die damalige kommunale Stadtpolizei von Günzburg mit ihrer kleinen Kriminalabteilung rekonstruierte nach der ersten Sachlage, dass der unbekannte Täter, der gegen 15.00 Uhr die Gaststätte betreten hatte, die Wirtin unter einem Vorwand zur Theke gelockt, sie dort brutal überfallen und vermutlich mit einem Faustschlag links gegen das Kinn niedergestreckt haben musste, um sie sodann brutal zu erwürgen. Anschließend musste er ihr in einem Anfall von sexueller Raserei die Kleider vom Leib gerissen haben, um sich dann zur Befriedigung seines abartigen Sexualtriebes in ihre erogenen Zonen zu verbeißen. Weiterhin hatte er 38,-- DM aus der Kasse genommen und einen Ring von der linken Hand der Wirtin gezogen. Sein ganzes Handeln erfüllte für die Günzburger Kriminalisten den „Tatbestand eines Verbrechens des vorsätzlichen Mordes in Tateinheit mit einem Verbrechen der Gewaltunzucht und des schweren Raubes“.
Doch die Obduktion, die am 1. April 1968 um 14.00 Uhr durchgeführt wurde, erbrachte das Ergebnis, dass die Adlerwirtin an einem „Herzinfarkt durch Schock“ gestorben war und nicht daran, dass der Täter sie gewürgt hatte. Die Frau hatte durch den Schrecken über die an ihr begangenen perversen Praktiken des Täters einen Herzinfarkt erlitten. Es kann sogar sein, dass der Täter sich noch unbewusst in seiner sexuellen Erregung an einer Toten vergangen hatte. Es wurden so gut wie keine Spermien an der Leiche festgestellt. Der unheimliche Triebtäter hatte mit ihr keinen Koitus vollzogen. Einer der Bissabdrücke am Körper der Toten war so prägnant, dass auf seiner Grundlage die Zahnstellung des Täters rekonstruiert werden konnte.
Am Tatort wurde an dem Bierglas, das auf dem Tisch stand, an dem der Täter gesessen hatte, ein Fingerabdruck gesichert. Er wurde mit weiteren am Tatort gesicherten Gegenständen (Gläsern und Bekleidung) per Kurier zum Bayerischen Landeskriminalamt nach München gebracht. Der Fingerabdruck wurde dort mit den registrierten Fingerabdrücken eines Landstreichers und dem Fingerabdruck eines Insassen des Günzburger Nervenkrankenhauses abgeglichen. Die Vergleiche verliefen negativ. Auch wurde die Kleidung des Nervenpatienten auf Spuren eines Geschlechtsverkehrs untersucht. Es ergaben sich keine Verdachtsmomente.
Der Nachbarin H. wurden alle 40 Insassen des Günzburger Nervenkrankenhauses gegenübergestellt, die an dem Tattag Ausgang hatten. Hierbei wurde von der Zeugin der Insasse P. als der Mann wiedererkannt, der mit einem komischen Hut bekleidet an der Ecke des „Adlers“ herumgestanden hatte. Doch konnte P. ein einwandfreies Alibi vorweisen. Er war von 14.00 Uhr bis 16.00 Uhr in der Gaststätte „Zum scharfen Eck“ gewesen, wo er zur Gaudi der versammelten Kneipengäste gejodelt hatte. Da sich das „Scharfe Eck“ nur einige Meter entfernt auf derselben Straßenseite wie der „Adler“ befand (und auch heute noch befindet), hatte er vor und nach der Tatzeit den Tatort passiert.
Weiterhin wurde nach einem Landstreicher Gerhard K. gefahndet, vorbestraft wegen Körperverletzung und Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Die Beschreibung, die die Zeugin W. abgegeben hatte, schien auf ihn zu passen. Die Polizei wurde seiner habhaft, aber auch er hatte für die Tatzeit ein Alibi. Er wurde bei Gegenüberstellungen auch nicht als der Mann erkannt, der im „Scharfen Eck“ gesessen und einen Bauern genötigt hatte, ihn mit dem Traktor mitzunehmen; darauf kommen wir gleich zurück.
Damals wie heute: die Gaststätte „Scharfes Eck“ in der Ulmer Straße in Günzburg.
©Copyright: Arndt-Heinz Marx, Hanau
Auf eine Zeitungsmeldung über das Verbrechen meldete sich am 1. April 1968 der Landwirt Peter I. bei der Polizei. Am Samstag, dem 30.03.1968 war er am Nachmittag mit dem Ausfahren von Jauche zu seinem Acker beschäftigt gewesen. Gegen 15.30 Uhr war ihm ein Mann aufgefallen, der in Richtung Ulmer Straße lief. Nachdem der Landwirt auf seinem Hof sein Jauchefass gefüllt hatte und damit wieder zurück zu seinem Acker Richtung Leipheim fahren wollte, versperrte ihm der Mann den Weg, als er mit seinem Traktor von der Hofausfahrt auf die Ulmer Straße einbiegen wollte. Der Mann habe ihm 20 ,-- DM angeboten und dringend gebeten, ihn nach Leipheim zum Bahnhof zu fahren. Als der Bauer ihm entgegnete, dass er vom Bahnhof Günzburg eine bessere Verbindung hätte, habe der seltsame Fremde geantwortet, dass er nicht nach Günzburg zurückkönne und dringend nach Ulm müsse. Auf dieses Drängen hin habe er den Mann dann mitfahren lassen. Der aufdringliche Anhalter wollte sich erst auf den Beifahrersitz seitlich hinter dem Fahrersitz setzen. Da er dem Bauern aber nicht ganz geheuer war, musste er auf der linken Traktorseite vor dem linken Hinterrad Platz nehmen. Dadurch konnte ihn der Bauer ständig im Auge behalten. Der Mann machte auf Peter I. einen verstörten Eindruck. Seine Kleidung war abgetragen und ziemlich verschmutzt. I. nahm den Mann schon deshalb mit, weil er fürchtete, dass der unheimliche Fremde, wenn er ihn stehen ließe, ihm den Hof anzünden würde. Solche Furcht war nicht ganz unberechtigt. Es war in Günzburg schon wiederholt vorgekommen, dass ausgerissene Insassen des Nervenkrankenhauses in der Stadt Feuer gelegt hatten. Auf der Fahrt bedrängte der Mann den Bauern immer wieder, schneller zu fahren, da er sehr in Eile sei. Außerhalb des bebauten Gebietes bog dann der Bauer in den ersten Feldweg ein, aber der unheimliche Fahrgast war nicht zum Absteigen zu bewegen. Er fuhr mit dem Bauern in Richtung Wald mit. Dort stieg er in höchster Eile und ohne sich zu verabschieden vom Traktor und lief schnell in den Wald hinein. Während der Anfahrt hatte ihm der Bauer noch erklärt, dass er durch den Wald an die Donau gelange und ein Fußweg entlang der Donau zum Bahnhof Leipheim führe.
Der Landwirt beschrieb den unbekannten Mann folgendermaßen:
Alter ca. 40 – 45 Jahre; ca. 175 cm groß; schlanke Gestalt, aber dennoch kräftig; dunkelblonde, an der Kopfseite glatt zurückgekämmte Haare, kleine anliegende Ohren; trug dunkelblaue Baskenmütze und hellfarbene Windjacke mit einer dunklen Hose, schwarze, spitze, abgetragene Lederschuhe. In den Händen trug er eine Aktentasche und einen dunklen Wintermantel mit weiteren Bekleidungsstücken. Besondere Kennzeichen: 1 kleine Warze unter dem linken Ohrläppchen; der kleine Finger der linken Hand ist eingebogen – verkrüppelt.
Eine Fahndung nach dem Unbekannten wurde über das BLKA eingeleitet.
Der Fall weitete sich dermaßen aus, dass er die Möglichkeiten der vierköpfigen Günzburger Kriminalabteilung bald sprengte. Deshalb wurde der Fall zur weiteren Bearbeitung der staatlichen Kriminalaußenstelle in Memmingen übertragen. Die Günzburger kommunale Stadtpolizei bestand damals, 1968, aus ca. 12 Mann, die vier Mann starke Kriminalabteilung eingeschlossen. Am 30. Juni 1970 wurde die Günzburger Stadtpolizei im Zuge der Polizeireform aufgelöst; ihre Beamten wurden von der Bayerischen Landespolizei übernommen.
Dienstmarke der Kriminalabteilung der ehem.kommunalen Günzburger Stadtpolizei.
Foto: ©Copyright, Stadt Günzburg
In den Ermittlungsakten wurde der Vorgang um den geheimnisvollen Unbekannten, der auf dem Traktor des Bauern I. Günzburg so fluchtartig verlassen hatte, als „Spur 10“ geführt.
Auf Grund der Zeugenaussage des Bauern Peter I. kam es am 1. April 1968 ab 13.00 Uhr zu einem Stöbereinsatz in Richtung Leipheim mit dem Diensthund „Akbar“. Ein Polizeibeamter fungierte als Hundeführer, ein zweiter Beamter begleitete ihn mit dem Handfunkgerät „Renate 4“. Beim dem Abgehen des Geländes links der Bahnlinie wurde nach ca. 1500 Metern ein Übernachtungslager gefunden, das jedoch älteren Ursprungs war. Es lag dort ein alter Mantel, 3 Meter entfernt fanden sich die Überreste einer Feuerstelle. In der Nähe der Feuerstelle wurde auch ein Knopf sichergestellt, der vermutlich von einem Damenmantel stammte. Als die Beamten in Leipheim auf der Höhe des Bahnwärterhäuschens aus dem Wald kamen, wurde die Stöberarbeit zurück zum Ausgangspunkt fortgesetzt. Diesmal nahmen die Beamten den Fußweg rechts der Bahnlinie, der von Leipheim aus nach Günzburg durch den Wald führt. Auf dieser Strecke wurde nichts gefunden. Um 15.30 Uhr wurde der Hunde-einsatz dann an seinem Ausgangsort abgebrochen.
Am 2. April 1968 meldete sich bei der Polizei der Bahnwärter Leopold V. als Zeuge, der am 30. März 1968 von 12.00 Uhr bis 17. 00 Uhr seinen Dienst am Bahnübergang Leipheim – Strecke Langenau versehen hatte. Dem Bahnwärter war ein Mann aufgefallen, der am 30.03.1968 zwischen 16.00 Uhr und 16.30 Uhr den Bahnkörper überquert hatte. Der Mann war ca. 50 Jahre alt gewesen, 175 bis 180 cm groß, schlanke Gestalt, dennoch kräftig. Er hatte ein mageres Gesicht und helle Gesichtsfarbe gehabt. Der Bahnwärter hatte gesehen, dass der Fremde eine Kopfbedeckung trug, hatte jedoch nicht feststellen können, ob es sich um eine Mütze oder einen Hut gehandelt hatte. Er war mit einem dunklen Mantel und einer dunklen Hose bekleidet gewesen und hatte eine ältere, schwarze Aktentasche mit Metallschließen bei sich geführt. Seine Bekleidung hatte abgetragen gewirkt. Der Mann war auf der Hauptstraße aus Richtung Langenau kommend in Richtung der Ortsmitte von Leipheim gegangen.
Auch einer Zeugin, die am 10.04.1968 ihre Aussage bei der Polizei machte, war der seltsame Fremde am Tattag um ca. 15.30 Uhr aufgefallen, als sie sich mit ihrem Mann gerade in ihrem Schrebergarten rechts der Ulmer Straße, kurz vor dem Bahnübergang Günzburg-Krumbach aufgehalten hatte. Der Fremde hatte trotz der sommerlichen Witterung einen Wintermantel getragen und den Mantelkragen hochgestellt gehabt. Auch hatte er eine dunkle Aktentasche mit sich geführt. Während der Dauer ihrer Beobachtung hatte der Mann versucht, die in Richtung Leipheim fahrenden Autos anzuhalten.
Obwohl der unheimliche Fremde dem Bauern gesagt hatte, er wolle zum Bahnhof nach Leipheim, und der Bahnwärter ihn in Richtung Leipheim hatte laufen sehen, scheint er dort nicht angekommen zu sein. Drei Bahnbeamte, die am Tattag am Bahnhof in Leipheim ihren Dienst versehen hatten, wurden als Zeugen vernommen. Ein Mann, welcher der für den Fremden gegebenen Beschreibung entsprochen hätte, war von ihnen am Leipheimer Bahnhof am 30.03.1968 nicht gesehen worden. Wahrscheinlich war dieser dann doch unterwegs von einem Autofahrer mitgenommen worden.
Das alte Bahnhofsgebäude in Leipheim.
©Copyright: Arndt-Heinz Marx, Hanau
Am 16.04.1968 meldete sich noch die Zeugin Maria G. Sie hatte in der Presse die Personenbeschreibung gelesen, die der Landwirt über den unheimlichen Fremden abgegeben hatte. Die Zeugin betrieb einen kleinen Laden für Milchprodukte in Günzburg, der nur 100 bis 150 Meter vom „Adler“ entfernt war. Ein paar Tage vor der Tat im „Adler“ war immer vormittags ein Mann zu ihr in den Laden gekommen, auf den die Täterbeschreibung zutraf. Der Zeugin war auch ein verkrüppelter kleiner Finger aufgefallen, sie meinte sogar, dass auch der Ringfinger, etwas schwächer ausgeprägt, nach innen versteift war. Eine Warze war ihr bei dem Fremden nicht aufgefallen. Der Unbekannte war zum ersten Mal erschienen, als vor dem Haus der Zeugin mit Kanalbauarbeiten begonnen wurde. Sie fragte ihn, ob er zu den Kanalbauarbeitern gehörte. Dies verneinte er, sagte aber, dass er auswärts beschäftigt sei. Er blieb ansonsten sehr wortkarg, blickte sich aber bei all seinen Besuchen im Laden immer aufmerksam um. Als sie den Fremden bei seinem dritten Besuch nach dem Grund fragte, warum sein kleiner Finger steif sei, fiel ihr auf, dass der Fremde deutlich erschrak. Ein ebenfalls anwesender Arbeiter der Kanalbaugruppe machte die Bemerkung, dass dies wohl von einem Unfall herrühre. Erleichtert bestätigte der Fremde die Vermutung des Arbeiters. Dies war der letzte Besuch des Unbekannten im Laden, einige Tage vor der Tat im „Adler“. Auch dieser Zeugin wurden die Fotos einiger Verdächtiger gezeigt; der Fremde befand sich nicht darunter.
Es wurden auch Nachforschungen dazu angestellt, ob jemand in einer in der Nähe gelegenen Schrebergartenkolonie widerrechtlich genächtigt hatte; auch hier war das Ergebnis negativ.
Eine weitere vielversprechende Spur, die „Spur 71“, war die Fahndung nach einem Landstreicher namens Josef V., der sich viel im deutsch-französischen Grenzgebiet herumtrieb und dafür bekannt war, dass er eine Baskenmütze trug. Auch hatte er einen verkrüppelten kleinen Finger. 1960 war er zum letzten Mal bei der Polizei auffällig geworden und dann abgetaucht. Aber er wurde gefunden und hatte ein gutes Alibi: Zur Tatzeit hatte er eine feste Arbeitsstelle.
Es wurden hunderte von Landstreichern und Vorbestraften überprüft. Darunter auch viele mit verkrüppelten Fingern und Warzen. Fünf Aktenordner des insgesamt sechs Ordner umfassenden Ermittlungsvorganges zum Fall „Adlerwirtin“ enthalten nur Unterlagen über die Prüfung der Alibis einschlägiger Personen. Da waren die Fotos von Gestalten darunter, denen man nicht einmal am hellichten Tag begegnen wollte. Einschlägige Unterkünfte wurden kontrolliert, und es wurde mit den Sozialämtern kooperiert. Doch es war wie verhext. Der Täter kam aus dem Nichts und verschwand im Nichts, als ob er sich in Luft aufgelöst gehabt hätte.
Sonderbar ist, dass die Kripo nie auf Grund der verschiedenen Zeugenaussagen ein Phantombild des Täters angefertigt hatte.
Drei Jahre nach der Tat wurde der Fall „Adlerwirtin“ in der XY-Sendung vom 05.03.1971 als
Filmfall dem Fernsehpublikum gezeigt. Aber auch nach der Sendung kam es zu keinen neuen Erkenntnissen. Der perverse Täter blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Manchmal geht einem die etwas gewagte Theorie durch den Kopf, der Triebtäter sei nur als Landstreicher maskiert herumgestrolcht, um dann später „abgeschminkt“ wieder den Normalbürger zu geben.
Vergessen wurde er jedenfalls nicht. Noch im Jahre 2009 befand sich unter den Fingerabdrücken, die im Laufe der Ermittlungen in einem anderen Mordfall zum Abgleich herangezogen wurden, auch der Fingerabdruck des unheimlichen Kneipengastes von 1968.
Armabzeichen der ehem. kommunalen Stadtpolizei Günzburg
Sammlung Arndt-H. Marx, Hanau
Nachwort:
Es ist und bleibt ein schauriger Fall. Mitten in einer Kleinstadt, auf einer belebten Straße, umgeben von rührigen Nachbarn mit offenen Fenstern, begeht einer eine solche Tat, bei der er jeden Augenblick damit rechnen muss, entdeckt zu werden. So einer kann nur krankhaft triebgesteuert sein.
Sicher werden sich schon einige Leser gefragt haben, warum ich immer nur vom „Täter“ und nicht vom “Mörder“ spreche. Ich wäre der Allerletzte, der zugunsten dieses Monsters hier ein Plädoyer halten würde, aber man muss die Fakten einmal nüchtern abwägen. Die Todesursache bei Frau K. war „Herzinfarkt durch Schock“. Es ist also nicht gesagt, dass eine Tötungsabsicht vorlag. Frau K. wurde von dem Triebtäter nur gewürgt, um sie ruhig zu halten. Durch die Aufregung erlitt sie dann den Herzinfarkt. Würde der Täter, falls er noch unter den Lebenden weilt, heute noch erwischt werden, würde ein guter Anwalt für ihn auf § 227 StGB plädieren, auf „Körperverletzung mit Todesfolge“. Und die wäre jetzt, nach 42 Jahren, bereits verjährt, genauso wie der Raub. Hinzu könnte ein dem Täter günstiges psychologisches Gutachten kommen sowie der Randgruppen-Bonus. Der Unhold von Günzburg könnte durchaus als freier (alter) Mann den Gerichtssaal verlassen.
Ich wollte diese Reportage zuerst mit „Der Vampir von Günzburg“ betiteln. Aber das klang mir dann doch zu sehr nach der Schlagzeile eines bestimmten sensationsgeilen Massenblattes, das ich nur beim samstäglichen Frühschoppen in der Kneipe (nicht im „Adler“) in die Hand nehme und auch dann nur, um das Horoskop zu lesen.
Die Nachnamen der Zeugen habe ich jeweils mit dem Anfangsbuchstaben abgekürzt. In der XY-Sendung vom 05.03.1971 waren die Namen der Zeugen komplett verändert gewesen. Da ich hier in dieser Reportage auch die Praktiken des Täters offenlege, habe ich aus Pietät den Nachnamen des Opfers ebenfalls mit dem Anfangsbuchstaben abgekürzt.
In der heutigen hypersexualisierten Zeit, in der sich jeder per Mausklick die absonderlichsten Perversitäten aus dem Internet auf den Monitor holen kann, wirken die Praktiken des Täters von Günzburg nicht mehr ganz so schockierend wie vor 40 Jahren.
Vielleicht liest diese Reportage eine reife Dame aus dem „Milieu“, die sich vielleicht noch daran erinnern kann, wer solche bizarren Praktiken in der Vergangenheit einmal von ihr verlangt hatte… “Kommissar Zufall“, bitte übernehmen Sie…
Quellen:
- Die originalen Ermittlungsakten der Kriminalpolizei
- „Aktenzeichen-XY ungelöst…“-Sendung vom 05.03.1971
Danksagung:
Hiermit bedanke ich mich ganz herzlich bei einem ganz bestimmten Beamten der Kriminalpolizei (K1) in Neu-Ulm, er selbst weiß schon, wer gemeint ist, für die freundliche Aufnahme und die zur Verfügung gestellten Ermittlungsakten, für Fotokopien, für das mir für das Aktenstudium zur Verfügung gestellte ehemalige Büro einer Soko sowie für den Kaffee, der nur bei der Kripo so gut schmeckt. Ohne diesen Beamten wäre meine Reportage nie möglich gewesen. Für seinen Ruhestand, den er in diesem Jahr nach jahrzehntelanger Polizeiarbeit antreten wird, wünsche ich ihm von dieser Stelle aus alles Gute.
Weiterhin bedanke ich mich bei Herrn Walter Grabert (nicht identisch mit dem Ermittler gleichen Namens aus der TV-Serie „Der Kommissar“) vom Stadtarchiv Günzburg für die Auskünfte über die ehemalige kommunale Günzburger Stadtpolizei und das zur Verfügung gestellte Foto.
Mein besonderer Dank geht wieder an meinen Lektor M.S.
Anhang:
Das historische „Aktenzeichen XY“-Dokument
Im ersten Ordner der Ermittlungsakten fand ich das komplette Moderatorenmanuskript der XY-Sendung vom 05.03.1971. Neben Eduard Zimmermann hatte auch der jeweilige Gast-Kriminalbeamte solch ein Manuskript. Das Exemplar im Ordner wird sicher das von Oberinspektor Schoch gewesen sein, das er beim abschließenden Gespräch mit Eduard Zimmermann nach der Ausstrahlung des Filmfalles in seinen Händen hielt. Die Frage, ob die handschriftlichen Verbesserungen von Eduard Zimmermann selbst oder von einem seiner Mitarbeiter stammen, kann er uns heute leider nicht mehr beantworten.
Auch ist interessant, dass der Filmfall hier den Arbeitstitel „Fingerwirtin“ und nicht „Adlerwirtin“ trug. Warum, darüber kann man nur spekulieren. Eventuell weil der Täter der Wirtin den Ring vom Finger gezogen hatte? Oder weil der Täter einen verkrüppelten Finger hatte?
©Copyright: Deutsche Kriminal-Fachredaktion
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