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Steinheim, November 1963

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Spur von kleinen Füßen…

November 1963 – Raubüberfälle, Verbrecherjagd, ein ungeklärter Raubmord und die kommunale Polizei

Die Verbrechen, die gleich geschildert werden, ereigneten sich alle im November 1963 in und um Steinheim am Main. Dies war eine kleine, ruhige, am Südufer des Mains gelegene Stadt, zu der im Jahre 1938 die Gemeinden Groß-Steinheim (Stadtrechte sogar schon seit 1320!) und Klein-Steinheim zusammengeschlossen worden waren - ein kleiner Anschluss neben einem weit größeren im selben Jahr.

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Postkarte von Steinheim am Main aus den frühen 1960er-Jahren.

Sammlung: Arndt-H. Marx, Hanau

Für Sicherheit und Ordnung sorgte in Steinheim eine kommunale Stadtpolizei. Oberster Dienstherr war der jeweilige Bürgermeister. Die kommunale Polizei war eine Einrichtung der amerikanischen Besatzungsmacht, die nach dem 2. Weltkrieg den zentralistischen Polizeiapparat zerschlagen und die Polizei nach amerikanischem Vorbild dezentralisiert hatte. Trotzdem war sie kein rein amerikanisches Modell. Schon vor 1945 gab es in Deutschland die kommunale Gemeindevollzugspolizei. Nach 1945 gab es auch in Hessen neben den kommunalen bald wieder staatliche Polizeidienststellen. Die gesamte Verstaatlichung der hessischen Polizei ließ im Jahre 1963 jedoch noch etwas auf sich warten, obwohl sie vielerorts gefordert wurde. Es gab auch bereits einen Referentenentwurf für ein neues Polizeiorganisationsgesetz, der noch im Dezember 1963 dem hessischen Landtag zugeleitet werden sollte.

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Mein Großvater, Hauptwachtmeister der Steinheimer
Stadtpolizei, auf einem gestellten Foto aus den 1950er-Jahren.

Foto: ©Copyright, Rudolf Müller, Hanau

Bevor wir uns den kriminellen Geschehnissen in und um Steinheim widmen, werfen wir erst einmal einen kurzen Blick auf das Jahr 1963. Was war damals sonst noch so alles geschehen?

Am 1. April 1963 war das ZDF auf Sendung gegangen, am 26. Juni hatte Präsident Kennedy Berlin besucht. In der Nacht zum 7. auf den 8. August hatte eine Bande von Zugräubern einen Postzug in der englischen Grafschaft Buckinghamshire überfallen - ein Raub, der zur Legende wurde. Am 15. Oktober war Konrad Adenauer als Bundeskanzler zurückgetreten, sein Nachfolger wurde Ludwig Erhard. Die Beliebtheit des Twists, eines US-importierten Modetanzes der frühen sechziger Jahre, hatte ihren Zenit überschritten. Die Popkultur würde in den nächsten Jahren von England aus bestimmt werden. Die Beatles stürmten im Jahre 1963 bereits die Hitparaden mit „Please, please me“, „Twist and shout“ und „She loves you“. Deutsche Ohrwürmer waren in diesem Jahr z. B.: „Ich will ´nen Cowboy als Mann“ von Gitte, “Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut“ von Billy Mo und „Schuld war nur der Bossa Nova“ von Manuela.

Am 22. November 1963 trat dann das Weltereignis ein, das wochenlang zum Tagesgespräch in der Öffentlichkeit, im Familien- und Freundeskreis und am Arbeitsplatz werden sollte: die Ermordung von Präsident John F. Kennedy im texanischen Dallas. Die Aufnahmen von der unter Beschuss dahinrasenden Präsidenten-Limousine und von der Ermordung des mutmaßlichen Attentäters Lee Harvey Oswald zwei Tage später vor laufenden Fernsehkameras gingen um die Welt.

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ED-Foto von Lee Harvey Oswald.

Foto: Polizei Dallas/Texas

Auch in der südhessischen Gemeinde Steinheim am Main redete man in dieser Zeit überall über das Attentat von Dallas und den schon zu seinen Lebzeiten zu einer Ikone gewordenen Präsidenten Kennedy. Niemand in Steinheim und den Nachbarorten hätte gedacht, dass genau eine Woche später das Tagesgespräch von einem grausamen Raubmord beherrscht werden würde, der in der eigenen Gemeinde geschehen und die Gemüter genauso erhitzen sollte wie der politische Mord im fernen Texas.

Auch in einem kleinen Ort wie Steinheim lauerte das Verbrechen, und die kommunale Stadtpolizei hatte es nicht nur mit Verkehrsunfällen zu tun. Für Aufsehen sorgte bereits einige Tage nach dem Kennedy-Mord ein Raubüberfall, und die Steinheimer hatten neben den tödlichen Schüssen von Dallas ein weiteres Thema für das Tagesgespräch. Damit sind wir schon bei unserem ersten Fall.

1. Raubüberfall in Steinheim

Steinheim am Main, Montag, der 25. November 1963. Ludwig Christian K., 22 Jahre alt und aus einem angesehenen Elternhaus stammend, steckte einen zuvor in Hanau gekauften Gasrevolver, Kaliber 9 mm, in die Tasche und machte sich auf zum Werksgelände der Firma Simka. Er war früher bei dieser Firma beschäftigt gewesen, war jedoch entlassen worden, nachdem er für eine Spritztour ein Fahrzeug entwendet hatte. Schon mehrfach wegen Diebstahls vorbestraft hatte er bis zum 30. September 1963 in Haft gesessen. Nach seiner Haftentlassung hatte er Arbeit bei einer Firma im nahen Hanau gefunden. Gegen 18.20 Uhr sprach er den technischen Leiter der Firma Simka vor der Firmengarage an. Er entschuldigte sich dafür, dass er Schulden, die aus einem früheren Einbruch bei der Firma Simka herrührten, noch nicht bezahlen konnte, versprach aber, zu einem späteren Zeitpunkt damit beginnen zu wollen. Danach verließ er das Firmengelände zum Schein und kehrte kurz darauf zurück. Diesmal bedrohte er den technischen Leiter mit dem Gasrevolver, der von einer echten Schusswaffe, besonders bei Dunkelheit, schlecht zu unterscheiden war. Er verlangte die Herausgabe eines Personenwagens. Der technische Leiter entgegnete K., er habe keine Wagenschlüssel bei sich. K. glaubte ihm nicht und sagte: „Mir ist es absolut ernst, ich habe nichts mehr zu verlieren! Wenn die Polizei kommt, lege ich Sie auch um!“ Der Überfallene rief daraufhin laut um Hilfe. Seine in der Nähe befindliche Ehefrau verständigte die Polizei. K. verlangte vom technischen Leiter die Herausgabe seiner Brieftasche. Tatsächlich nahm dieser daraufhin seine Brieftasche mit 30 DM Inhalt heraus und legte sie auf K.’s Aufforderung hin auf den Boden. K. nahm sie und flüchtete zu Fuß in Richtung Main. Der Chef der Steinheimer Stadtpolizei, Polizeioberkommissar Much, leitete über Funk sofort eine Großfahndung ein. Alle verfügbaren Beamten der Steinheimer Polizei wurden für eine örtliche Fahndung eingesetzt. K. wurde im Fahndungsaufruf so beschrieben: „Scheinbares Alter 23 bis 25 Jahre, 1,73 Meter groß, blaugraue Augen, mittelblondes, nach hinten gekämmtes wolliges Haar, ovale Gesichtsform, etwas vorstehende Backenknochen. Besondere Kennzeichen: Eine 1 Zentimeter lange Narbe unter dem rechten Auge. Bekleidung: grau gemusterter Sportwintermantel, brauner Hut italienischer Sportform.“

Oberkommissar Much hätte zu diesem Zeitpunkt nicht gedacht, dass er einige Tage später wegen eines viel schwereren Verbrechens erneut eine Fahndung würde veranlassen müssen, wegen der er sogar ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik geraten sollte…

Der Täter K. wurde bereits einen Tag später, am Dienstag, dem 26. November gefasst. Er war nach dem Raubüberfall zuerst nach Hanau geflüchtet. Nachdem er dort in einer Kneipe bereits 15 der geraubten 30 DM ausgegeben hatte und außerdem der polizeiliche Fahndungsdruck auf ihm lastete, war er nach Steinheim zurückgegangen und hatte sich in sein Elternhaus geschlichen. Dort wurde er von der Steinheimer Stadtpolizei am Vormittag des 26. November festgenommen und war geständig. In Offenbach wurde er dem Haftrichter vorgeführt, der Haftbefehl erließ und K. in U-Haft schickte.

Doch mit diesem Raubüberfall im November 1963 rollte die Verbrechenswelle erst richtig heran. Es ging am nördlichen Mainufer weiter.

2. Die Jagd nach Kurt P.

Der 34jährige Schuhmacher Kurt P. aus der Hanauer Lamboystraße war ein schwerer Junge. Er hatte 9 Jahre wegen schwerer räuberischer Erpressung in Haft gesessen und war am 8. September 1963 entlassen worden. Genau 2 Monate gab er Ruhe, dann legte er mit seinen kriminellen Aktivitäten wieder los:

- Am 8. November 1963 besuchte er einen ihm bekannten Rentner und entwendete in einem unbewachten Augenblick die Barschaft des Mannes in Höhe von 60 DM.

- Ebenfalls am 8. November drang er in die Wohnung einer Hanauer Frau ein und stahl das dort vorhandene Bargeld.

- Zwischen dem 10. und dem 15. November brach er in Bischofsheim (heute Teil der Stadt Maintal) und Bergen-Enkheim (heute Teil von Frankfurt am Main) in verschiedene Gartenhütten ein und entwendete dabei einen IGA-Karabiner (6 mm) sowie ein Diana-Jagdgewehr samt der dazugehörenden Munition.

- Am 15. November beraubte er mit vorgehaltenem Karabiner zwischen Frankfurt-Fechenheim, Bischofsheim und Bergen-Enkheim einen 62 Jahre alten Arbeiter, der gerade von seiner Arbeitsstelle nach Hause wollte. Beute: die Lohntüte mit 105 DM Inhalt.

- Nach diesem Raubüberfall drang P. im Raum Bischofsheim wieder in verschiedene Gartenhütten ein und versorgte sich dort mit Kleidung. Seine getragenen Sachen ließ er in einer der Hütten zurück.

- Am 16. November wurde P. von dem Besitzer eines Gartengrundstücks überrascht, als er gerade dessen Gartenhütte aufbrechen wollte. P. bedrohte den 55jährigen Mann mit einem Gewehr und befahl ihm unter Drohungen, in die Hütte zu gehen und solange darin zu bleiben, bis er, P., verschwunden sei.

- P. wich dann nach Niederrodenbach aus, wo er sich in einem Wochenendhaus einnistete. Er verbrachte dort die Zeit vom 17. bis zum  22. November und verwüstete dabei die Inneneinrichtung vollständig.

- Am 22. November drang P. in die Hütte eines Schäfers ein. Dieser ertappte ihn jedoch bei dem Einbruch. P. griff zu einem in der Hütte liegenden Hirschfänger und wollte damit auf den Schäfer losgehen. Der aber setzte sich gegen den Verbrecher zur Wehr. Er griff sich eine schwere Eisenkette von seinem Traktor und schlug damit wild um sich. Verdutzt über die Gegenwehr flüchtete P. überstürzt. Es blieb seine Tasche zurück, in der sich Hinweise auf seine Person befanden.

- Am Montag, dem 25. November überfiel er einen 73jährigen Rentner, der im Waldgelände zwischen Frankfurt-Fechenheim, Bergen-Enkheim  und Bischofsheim einen Spaziergang machte. P. bedrohte ihn mit einem Gewehr und nahm ihm sein Bargeld in Höhe von 43 DM ab. In der Fahndung wurde Kurt P. folgendermaßen beschrieben: „1,66 m groß, kräftig und stark gebaut, er hat blaue Augen und dunkles, nach hinten gekämmtes Haar, eine Stirnglatze mit einzelnen Haaren“.

Bis zum 27. November waren rund 50 Polizisten aufgeboten worden, um den Gewaltverbrecher zu fassen. Dann entschlossen sich die Strafverfolgungsbehörden jedoch zu einer Großfahndung. 300 Polizisten in Uniform und Zivil, unterstützt von 35 Suchhunden, machten sich am Mittwoch, dem 27. November 1963 frühmorgens zwischen 5 und 6 Uhr im Bereich Bischofsheim bei schlechter, neblig-trüber Witterung und verschlammten Feldwegen auf, um P. aufzuspüren und dingfest zu machen. Bei den eingesetzten Polizeikräften erkennt man ganz deutlich das  Nebeneinander der damaligen kommunalen und staatlichen Polizeidienststellen. Eingesetzt waren: die staatliche Kriminalpolizei Hanau, die städtische Kriminalpolizei Hanau, die Schutzpolizei Hanau, die Landespolizei Hanau, die Hessische Bereitschaftspolizei Mühlheim, die Hessische Hundeführerschule sowie die Schutzpolizei und die Kripo der Stadt Frankfurt am Main.

Es war keine Super-Großfahndung mit 1000 Polizisten, wie die gegen den „Räuberhauptmann“ Bernhard Kimmel zwei Jahre zuvor im Pfälzer Wald, aber immerhin.

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Im Schlamm steckengebliebenes Polizeifahrzeug bei
der Großfahndung. Jeder Dienstgrad packte mit an.

Foto: ©Copyright, Hanauer Anzeiger (mit freundlicher Genehmigung)

P. wurde jedoch nicht aufgestöbert. Das gelang erst einen Tag später, am Donnerstag, dem 28. November. In einem Lokal in der Frankfurter Breiten Gasse wurde er am Abend von einer Funkstreife der Frankfurter Polizei festgenommen. Laut einer Pressemeldung hatte es Hinweise aus der Bevölkerung gegeben. Vielleicht war er aber auch verzinkt worden, denn die Frankfurter Breite Gasse war damals schon neben dem Bahnhofsviertel für ihre Puffs und Unterweltlokale berüchtigt.

P. wurde am darauffolgenden Freitag in Hanau von der Kripo vernommen. Die Beamten stellten fest, dass er sich durch seine Gewaltmärsche, die er von Tatort zu Tatort zurückgelegt hatte, wundgelaufene und aufgequollene Füße zugezogen hatte. Kriminalbeamte brachten ihn zum Stadtkrankenhaus, wo ein Amtsarzt seine Fußwunden behandelte. Der Berichterstatter des Hanauer Anzeigers fand es „bösartig“, dass der in Handschellen gefesselte und von Kriminalbeamten eskortierte P. dem Fotoreporter die Zunge zeigte, als er aus dem Krankenhaus gebracht wurde. Außerdem hob P. beim Einsteigen in das Polizeiauto sein Jackett und streckte dem Fotografen sein Hinterteil entgegen. Den „Stinkefinger“ kannte man damals noch nicht.

P. war bei den Verhören geständig und bereit, den Beamten das Versteck der Waffen zu zeigen, die er bei den Überfällen benutzt hatte. Er äußerte sich sogar dahingehend, dass ihn beim anstehenden Prozess wohl die Sicherheitsverwahrung erwarten werde.

P. scheint seine Einbruchstouren nicht alleine gemacht zu haben. Einige Tage später erschien im Hanauer Anzeiger ein Fahndungsaufruf (mit Foto) nach dem 26jährigen, 1,59 m großen Heinrich S., der zusammen mit ihm Einbruchsdiebstähle begangen haben soll. S. hatte dabei auch Gewehre erbeutet. Vor S. wurde gewarnt, da zu vermuten war, dass er rücksichtslos von der Waffe Gebrauch machen würde.

Während der Raubüberfall durch Ludwig Christian K. noch provinziellen Beigeschmack hatte, waren die Taten des Kurt P. schon von einem anderen Kaliber. Doch bald erreichte die Verbrechenswelle ihren höchsten Punkt, und zwar in der Nacht vom Donnerstag, dem 28. auf Freitag, den 29. November 1963.

Vielleicht am Abend des 28. November, als Kurt P. in Frankfurt geschnappt wurde, brüteten am anderen Mainufer mindestens zwei Täter einen Einbruch aus, vielleicht hatten sie ihn auch schon seit langem geplant. Es waren vier Wochen bis Weihnachten, in vielen Betrieben lagen die Lohngelder und Weihnachtszuwendungen in den Panzerschränken bereit, denn damals gab es noch keinen bargeldlosen Zahlungsverkehr. Ziel der Einbrecher: die Lohngelder bei der Großdruckerei Illert & Ewald in Steinheim. Deren Gelände war am Mainufer am Rande der historischen Altstadt gelegen. Wie sich später bei den Ermittlungen herausstellen sollte, musste zumindest einer der Verbrecher die Örtlichkeiten und die Firma gut gekannt haben.

3. Der Raubmord an Heinrich Spahn

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Die Druckerei Illert & Ewald. Aufgenommen bei Hochwasser im Februar 1995.

Foto: Archiv Leo Mayer, Hanau-Steinheim

Heinrich Spahn aus Klein-Auheim, ein ruhiger Mann im Alter von 60 Jahren, war zu 40 Prozent kriegsbeschädigt. Er war gelernter Etuimacher, arbeitete wegen seiner Kriegsverletzung jedoch nur als Hilfsarbeiter bei der Firma Illert & Ewald. Der Nachtportier der Firma, Rudolf Oberle aus Steinheim, befand sich seit dem 21. November zur Kur in Bad Homburg, so dass Heinrich Spahn dessen Tätigkeit aushilfsweise übernahm. Sein Hauptaugenmerk galt dabei dem Brandschutz.

Heinrich Spahn wurde bei seinen Rundgängen in dem verwinkelten, langgestreckten Bau immer von einigen Arbeitern der Nachtschicht gesehen.

Einstieg

Der mit Pfeil gekennzeichnete Einstieg der Täter in das Gebäude.

©Copyright: Offenbach-Post (mit freundlicher Genehmigung)

Während Heinrich Spahn seine Runden lief, schlichen sich einige Gestalten durch den Garten der alten Villa Illert an die Druckerei heran. Sie entkitteten ein Fenster und drangen im ersten Stock in die Büroräume der Firma ein. Dort brachen sie Bürotüren, Schränke und Schreibtische auf, durchwühlten diese und suchten den Schlüssel zu einem Panzerschrank. Es sollte später von der Mordkommission festgestellt werden, dass Heinrich Spahn zum letzten Mal um 0.43 Uhr die Stechuhr betätigt hatte. Kurz nach Mitternacht war er von drei Arbeitern der Nachtschicht zuletzt gesehen worden. Gegen 1.00 Uhr muss er dann in einem der Büroräume auf die Einbrecher gestoßen sein. Es kam zu einem heftigen Kampf, bei dem sich der Kriegsbeschädigte verzweifelt zur Wehr setzte. Die Verbrecher schlugen ihm rund 20 mal mit einem schweren, aus der Firma stammenden Schraubschlüssel auf den Kopf und schleiften den Bewusstlosen zum Papierschneideraum. Sie nahmen Paketschnur aus der Betriebspackerei, wickelten diese dem bäuchlings auf dem Boden Liegenden um den Hals und befestigten ihr Ende am Griff eines Spindes und zogen sie dabei an. Der Kopf von Heinrich Spahn wurde dadurch in die Höhe gezerrt, so dass er sich in bewusstlosem Zustand selbst strangulierte.

In einer Schublade fanden die Verbrecher den Schlüssel zum Panzerschrank, in dem sie die Lohngelder vermuteten. Wahrscheinlich wusste auch einer der Täter, wo der Schlüssel lag. Als sie dann erwartungsvoll den Tresor öffneten, werden sie erst einmal lange Gesichter gemacht haben. Die Beute: 340 Mark aus einer Kegelkasse und einer Portokasse. Dann drehten die Gangster dem bewusstlosen Heinrich Spahn die Taschen um und „erbeuteten“ noch einmal 20 Mark aus seiner Geldbörse. Schließlich nahmen sie einen Schlüsselring mit einem Universalschlüssel und zwei Normalschlüssel sowie einen Schlüsselbund mit einem Steckschlüssel für Lichtschalter und zwei Universalschlüsseln an sich. Wegen dieser „Beute“ musste Heinrich Spahn so grausam sterben. Vielleicht aber auch deshalb, weil er die oder zumindest einen der Täter erkannt hatte.

Es befanden sich tatsächlich größere Geldbeträge in der Druckerei, da die Firma bereits daranging, die Weihnachtszuwendungen an ihre Mitarbeiter auszuzahlen. Doch die Gelder waren in Panzerschränken aufbewahrt, die die Täter nicht fanden.

Die Arbeiter der Nachtschicht hatten Heinrich Spahn seit einigen Stunden nicht mehr gesehen und machten sich Sorgen. Einige machten sich auf die Suche nach ihm.

Es war wenige Minuten nach 5 Uhr am Morgen des 29. November, genau eine Woche nach dem Kennedy-Mord, als der Vorarbeiter Johann Jung aus Hainstadt (heute Hainburg) die blutüberströmte Leiche des Heinrich Spahn im Papierschneideraum entdeckte.

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Mit diesem ca. 37 cm langen Schraubschlüssel schlugen die Täter Heinrich Spahn bewusstlos.

Foto: Kriminalpolizei

Schreckensbleich stürzte Jung ans Telefon und benachrichtigte die Werksleitung über den grausigen Fund. Die Werksleitung benachrichtigte umgehend die Steinheimer Stadtpolizei.

Es war kurz nach 5 Uhr, da bekam der diensthabende Hauptwachtmeister der kommunalen Klein-Auheimer Ortspolizei, Josef Heilmann, einen Anruf seiner Steinheimer Kollegen, dass bei Illert & Ewald in Steinheim ein Mord geschehen sei und er sofort zu Kriminalobermeister Kraft fahren solle, um diesen zu wecken. Kriminalobermeister Kraft war die in der Steinheimer Nachbargemeinde Klein-Auheim wohnende Einmann-Kripo der Steinheimer Stadtpolizei. So wie es im Jahre 1963 keine Selbstverständlichkeit war, dass sich bereits in jedem Haushalt ein Fernsehgerät befand, so war es ebenfalls noch nicht alltäglich, dass jeder über ein Telefon verfügte. Ortspolizisten bildeten da keine Ausnahme.

Hauptwachtmeister Heilmann fuhr zu Kriminalobermeister Kraft, holte ihn aus dem Bett und teilte ihm den Telefonanruf mit. Dann fuhr er wieder zur Klein-Auheimer Polizeistation zurück.

Um 5.10 Uhr wurde über Funk ein Beamter der Steinheimer Stadtpolizei verständigt, der sich auf Außenstreife befand. Wortlaut der Meldung: „Toter bei Illert & Ewald“. Der Beamte fuhr zur Firma und stellte fest, dass vermutlich ein Kapitalverbrechen vorlag. Ein Fall für die Kripo also. Nachdem er den Tatort gesichert hatte, fuhr er nach Klein-Auheim, um den dort bereits wartenden Kriminalobermeister Kraft, Steinheims Einmann-Kripo, in dessen Wohnung abzuholen.

Zehn Minuten später, also um ca. 5.20 Uhr, kehrte der Beamte zusammen mit Kriminalobermeister Kraft an den Tatort zurück. Es stellte sich bei der Begutachtung der „seltsamen und schlecht einsehbaren Lage des Toten“  (Zitat Oberkommissar Much) die Frage, ob hier Unfall, Selbstmord oder Mord vorlag. Seltsam! Ein Selbstmörder wird wohl vorher keine Büros, Schubladen und Schränke aufbrechen, sich selbst auf den Kopf schlagen und dann erst strangulieren…

Um 6.10 Uhr, also eine Stunde nach der Entdeckung der Leiche und 50 Minuten, nachdem Obermeister Kraft den Tatort begutachtet hatte, wurde Oberkommissar Much, der Leiter der Steinheimer Stadtpolizei informiert, vermutlich direkt vom Tatort aus durch Obermeister Kraft.

Am Tatort eingetroffen, ließ Much von dort über Funk und Telefon die Mordkommission der Kriminalinspektion Süd in Darmstadt informieren. Gleichzeitig wurde die Spurensicherungsgruppe beim Landeskriminalamt Wiesbaden angefordert.

Um 6.30 Uhr ließ Oberkommissar Much durch zwei uniformierte Beamte das Fabrikgelände absperren. Much und Kraft richteten nach einem ersten Überblick ihren provisorischen Lageraum in einem Zimmer ein, in dem die Täter wahrscheinlich nicht tätig gewesen waren und somit keine Spuren hinterlassen hatten. Die Tatorträume zogen sich über 120 Meter hin, überall waren Blut- und Trittspuren. Schränke, Gänge, Fabrik- und Büroräume, Türen, Scheiben und Wände waren bedeckt mit Spuren verschiedener Art. Much und Kraft waren bemüht, bis zum Eintreffen der Mordkommission und der Spurensicherung keine der Spuren zu zerstören.

Die Leiche war bisher nicht untersucht worden, das geschah dann durch den Amtsarzt Medizinaldirektor Dr. Osswald. Ob Dr. Osswald allein oder zusammen mit der Mordkommission ankam, lässt sich den mir vorliegenden Zeitungsberichten nicht entnehmen.

Die Mordkommission unter Kriminalrat Gehrig, aus Darmstadt kommend, traf um 7.50 Uhr am Tatort ein. Die Anfahrt verzögerte sich durch Glätte, Nebel und den Berufsverkehr. Zwanzig Minuten später, um 8.10 Uhr, traf die verstärkte Spurensicherungsgruppe des hessischen Landeskriminalamtes aus Wiesbaden ein. Nach dem ersten Überblick bildeten Mordkommission und Spurensicherung verschiedene Arbeitsgruppen. Nun war endgültig klar, dass Selbstmord oder Unfall nicht in Frage kamen. Es wurde eindeutig festgestellt, dass ein Mord vorlag. Außerdem ließen die aufgebrochenen Schränke, Türen und Schreibtischschubladen auf Raub schließen. Hätten Much und Kraft das nicht auch gleich beim ersten Augenschein feststellen und sofort ihre Kollegen auf den Revieren in den Nachbarorten benachrichtigen können? Diese unangenehme Frage sollte schon bald gestellt werden.

Um 8.30 Uhr wurde die Bereitschaftspolizei in Mühlheim gebeten, ein Ersuchen, Spürhunde zu entsenden, an die Polizeihundeführerschule nach Mühlheim-Dietesheim weiterzuleiten. Als die Hundeführer, die bereits zwei Tage vorher die Jagd auf Kurt P. mitgemacht hatten, dann mit ihren vierbeinigen Kollegen in Steinheim eintrafen, mussten sie bis 10.00 Uhr auf ihre Einsatzbefehle warten. Oberkommissar Much dazu: „Um diese Zeit hatten wir noch nichts, was wir den Hundenasen anbieten oder vorhalten konnten.“

Falls aber vor 10.00 Uhr schon festgestellt worden war, wo die Verbrecher in das Gebäude eingestiegen waren (auf demselben Weg hatten sie es auch wieder verlassen gehabt), hätte man die Hunde jedenfalls schon im Garten der alten Villa Illert zur Spurensuche ansetzen können.

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Hundeführer der Polizeihundeführerschule
Mühlheim-Dietesheim auf Spurensuche am 29. November 1963.

©Copyright: Offenbach Post (mit freundlicher Genehmigung)

Um 10.15 Uhr ließen sich die ersten Ermittlungen der verschiedenen Arbeitsgruppen von Mordkommission und Spurensicherung zusammenfassen. Nun ging endlich die Fahndung heraus. Um 10.50 Uhr wurde ein Blitzfernschreiben „An Alle“ telefonisch nach Hanau zum Fernschreiber übermittelt. Das Bundeskriminalamt wurde um die Steuerung der Fahndung gebeten. Weiterhin wurden das Hessische Innenministerium, die Oberstaatsanwaltschaft und der Regierungspräsident in Darmstadt sowie sämtliche Polizeidienststellen informiert.

Dazu Oberkommissar Much: „Innerhalb von 20 Minuten waren damit alle Polizeidienststellen der Bundesrepublik benachrichtigt. Der Rücklauf des Fernschreibens an Steinheim bestätigte das.“

Die Meldung über den Mord kam jedoch auf diesem Weg auch in den unmittelbaren Steinheimer Nachbarorten Hanau, Mühlheim, Klein-Auheim und Großauheim erst nach elf Uhr bei den dortigen kommunalen Polizeidienststellen an! Sechs Stunden nach der Entdeckung des Mordes! So lief z.B. die Meldung über Fernschreiber im drei Kilometer entfernten Nachbarort Mühlheim zuerst in der Unterkunft der dortigen Bereitschaftspolizei ein, von wo ein Bereitschaftspolizist das Fernschreiben seinen kommunalen Mühlheimer Kollegen erst überbringen musste.

Kurz nach zehn Uhr wurde die Presse informiert. Um 12.40 Uhr verbreitete der Hessische Rundfunk die erste Meldung über den Mord.

Die Kripo stellte drei Hauptfragen an die Bevölkerung:

- Wer hat in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag, etwa zwischen Mitternacht und 6 Uhr morgens, in der Nähe des Steinheimer Hainberges oder rund um Steinheim herum Wahrnehmungen gemacht, die mit dem Mord in der Druckerei in Verbindung stehen könnten?

- Wer hat in der Mordnacht oder im Verlaufe des Freitags einen oder mehrere Männer mit blutbefleckter Kleidung – Hose, Jacke, Schuhe – gesehen?

- Wer hat am Freitag oder später Männer oder Jugendliche mit Schlag- oder Kratzverletzungen an Kopf, Hals, Armen oder Händen gesehen, die aus dem Steinheimer Verbrechen herrühren könnten?

Diese Fragen wurden nicht nur an die Steinheimer Bevölkerung gestellt, sondern auch an die Einwohner der unmittelbaren Nachbarorte.

Am Freitag, dem 29. November fuhr zwischen 11.00 und 15.00 Uhr ein Streifenwagen der Steinheimer Stadtpolizei  Steinheim und Umgebung ab und gab über Kommandolautsprecher das Fahndungsersuchen der Polizei und die ausgesetzte Belohnung bekannt. Die Firma Illert & Ewald hatte zur Belohnung für die Ergreifung der Täter 1000 DM ausgelobt. Einige Tage später sollte der Regierungspräsident in Darmstadt die Belohnung um weitere 3000 Mark aufstocken, so dass insgesamt 4000 DM Belohnung zur Aufklärung des Verbrechens ausgesetzt wurden.

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Solch ein tannengrüner VW-Streifenwagen mit Kommandolaut-
sprecher gehörte 1963 zum Fuhrpark der Stadtpolizei Steinheim/Main.

Foto: ©Copyright, Arndt-H. Marx, Hanau

Um 16.00 Uhr wurde bei der Firma Illert & Ewald eine Betriebsversammlung abgehalten, bei der die Betriebsangehörigen von der Kripo um Informationen und um Mitarbeit bei der Aufklärung gebeten wurden.

Die nun gebildete Sonderkommission schlug ihr Hauptquartier im Konferenzraum der Firma auf. Hunderte Arbeiter und Angestellte der Firma Illert & Ewald wurden in den nächsten Tagen dort vernommen, ebenso Personen, die früher einmal in dem Betrieb beschäftigt gewesen waren.

Nach einer Wochen wuchsen die Ermittlungsakten schon auf 16 Leitz-Ordner an.

Die Vernehmungen führte hauptsächlich Kriminalobermeister Kraft mit Unterstützung dreier nach Steinheim abgeordneter Kollegen der staatlichen Kriminalpolizei Gießen.

Als Täterkreis kamen Personen in Betracht, die in Beziehung zum Betrieb standen oder einmal gestanden hatten. Es gab aber auch Indizien auf ein weiteres geographisches Umfeld. Schließlich dachten die Ermittler an „eine Verdachtsgruppe, die noch weiter reicht“.

Mit dieser „Verdachtsgruppe“ war höchstwahrscheinlich die Gruppe der damals gerade nicht wenigen Gastarbeiter gemeint, vor allem aus Italien. Deshalb wurde auch ein Fahndungsplakat in italienischer und spanischer Sprache gedruckt. Es war bei der Spurensicherung festgestellt worden, dass die Täter von kleiner Statur gewesen sein mussten, da die gesicherten Fußspuren nicht größer als 25 Zentimeter waren. Zeitzeugen haben mir mitgeteilt, dass sich schon damals der Verdacht aufgedrängt habe, die Täter seien Italiener gewesen.

Noch am Freitag wurde im Auftrag der Steinheimer Stadtpolizei ein DIN A4-Sonderdruck „Raubmord“ herausgebracht, mit einem Hinweis auf die Belohnung von 1000 DM. Verteilt und ausgehängt wurde dieser Sonderdruck bei den Polizeidienststellen in den umliegenden Orten. Nach diesem ersten Fahndungsplakat wurde in der Nacht zum Samstag, dem 30. November für die in der Gegend tätigen Gastarbeiter auch noch eines in italienischer und spanischer Sprache gedruckt.

Zusammen mit einem Großplakat im Format A0 gingen die Plakate am Samstagvormittag per Polizeistafette in alle Orte im Umkreis von Frankfurt, Darmstadt, Obernburg und Gelnhausen. Die Bayern übernahmen Plakate für die Gebiete Alzenau, Aschaffenburg, Obernburg; die Hanauer verteilten sie bis nach Gelnhausen; die Mühlheimer gaben sie nach Offenbach und Frankfurt weiter, und die Landespolizei erreichte den Dieburger Raum bis Groß-Umstadt. Dazu Oberkommissar Much: „Gerade dabei hat sich wieder die gute Zusammenarbeit der Polizeidienststellen gezeigt.“

Doch zurück zum Freitag, dem 29. November:

Um 19.50 Uhr ging ein zweites Blitzfernschreiben „An Alle“ und um 21.55 Uhr ein drittes Fernschreiben hinaus mit Hinweisen auf wahrscheinliche Tätermerkmale.

Vorwürfe der Presse, aus der Bevölkerung und auch aus Polizeikreisen, dass die Polizei während der ersten Stunden nach der Entdeckung des Mordes nur mangelhaft über die Kommunalgrenzen hinaus zusammengearbeitet gehabt habe, wies Oberkommissar Much immer wieder mit einem entschiedenen „Nein!“ von sich. So sagte er in einem Interview mit der Offenbach-Post:

 „Was hätte ich meinen Kollegen dort früher sagen können oder sollen? Die Täter hatten die Ermittlungsarbeiten dadurch, dass sie in den weiträumigen und verschachtelten Betriebsräumen herumgelaufen waren, sehr erschwert. Mit einer Telefonnachricht „Leiche gefunden“ wäre keinem meiner Kollegen gedient gewesen. Mehr zu sagen aber waren wir erst nach zehn Uhr in der Lage, und da wurde zweifellos ein Höchstmaß an Geschwindigkeit erreicht. Blitzfernschreiben sind präziser als Telefonate, ganz abgesehen davon, dass Telefongespräche nur hintereinander geführt werden können und weit mehr Zeit erfordern als ein gleichzeitig „An Alle“ abgesetztes Blitzfernschreiben.“

Wenn zwei erfahrene Polizeibeamte wie Kraft und Much zwischen aufgebrochenen Bürotüren, Schränken und Schubladen die Leiche des Nachtportiers finden, wäre jedoch tatsächlich ein Telefonanruf an die Polizeistationen der Nachbarorte dringend geboten gewesen und nicht erst fünf Stunden später ein Blitzfernschreiben! Die Blut- und Kampfspuren mussten auf ein Kapitalverbrechen hindeuten. Zwar waren zwischen dem Mordzeitpunkt und dem Auffinden der Leiche bereits vier Stunden vergangen gewesen, aber es hätte doch nach dem ersten Eindruck sofort eine Fahndung nach Männern mit Blut- und Kampfspuren angekurbelt werden müssen, um den Vorsprung der Täter nicht noch weiter zu vergrößern. Es hätten zumindest die kommunalen Polizeidienststellen in der unmittelbaren Nachbarschaft, wie Klein-Auheim, Großauheim, Mühlheim und Hanau, telefonisch benachrichtigt werden müssen. Um Kriminalobermeister Kraft aus dem Bett zu holen wurde ja auch vom Steinheimer Polizeirevier aus die benachbarte kommunale Polizeidienststelle in Klein-Auheim angerufen.

Much im Interview weiter:

„Außer Klein-Auheim und Seligenstadt sind alle Polizeidienststellen im Kreis Offenbach über Funk zu erreichen. Deshalb sei am Freitag um 10.15 Uhr von Steinheim aus ein Ersuchen an die Funkleitstelle Wiesbaden gegangen um telefonische Durchsage des Blitzfernschreibens an jene Dienststellen, die per Funk nicht erreichbar sind. Es sei also anzunehmen, dass auch Klein-Auheim und Großauheim sowie Seligenstadt schon vor oder gegen elf Uhr informiert gewesen sein müssten. Mehr kann man doch eigentlich nicht tun!“

Doch, man hätte die kommunalen Dienststellen der Nachbarorte schon Stunden eher telefonisch unterrichten können! Sogar durch Funk (ausgenommen Klein-Auheim und Seligenstadt)!

Much weiter im Interview:

„Überdies sei zumindest in Klein-Auheim schon gegen 8.00 Uhr morgens die Mordnachricht in allen Geschäften verbreitet gewesen. Wir mussten ja die Arbeitskräfte der Firma Illert & Ewald am Fabriktor zunächst zurückhalten und zum Teil zurückschicken. Viele von ihnen stammen aus Klein-Auheim.“

Toll, was nutzte den Polizeibeamten der Klatsch und Tratsch der Klein-Auheimer Ortsbevölkerung, wenn sie nicht aus erster Hand von ihren Steinheimer Kollegen ins Bild gesetzt wurden. Wie Much selber sagte, war in Klein-Auheim in der Bevölkerung die Mordnachricht um 8.00 Uhr schon bekannt, aber die dortigen Polizeibeamten erfuhren amtlich alles erst ab elf Uhr über Blitzfernschreiben!

Auch der Hanauer Anzeiger betitelte damals eine Kolumne mit der Überschrift „Mangelnde Zusammenarbeit?“ Darin erfährt man, dass diese Zeitung am Freitagvormittag um 9 Uhr einen Anruf bekommen hatte, in dem die Redaktion über das Verbrechen auf der anderen Seite des Mains unterrichtet worden war. Der Anrufer hatte aber so verworren geredet, dass den Redakteuren nicht klar geworden war, ob das Verbrechen wirklich stattgefunden hatte. Deshalb hatten sie versucht, telefonisch die kommunale Polizeidienststelle in Steinheim zu erreichen. Der dortige Anschluss war jedoch ständig besetzt gewesen. Also hatte die Redaktion des Anzeigers nacheinander die Staatliche Kriminalpolizei in Hanau, die Landespolizei und sowie die Hanauer städtische Polizei angerufen. Sie hatte dabei feststellen müssen, dass vier Stunden nach der Entdeckung des Mordes bei allen diesen Dienststellen noch nichts über das Verbrechen auf dem anderen Mainufer bekannt war.

So bemerkte der Hanauer Anzeiger treffend:

„Bei der Vielzahl der Verbrechen in den letzten Wochen und Monaten diesseits und jenseits des Mains kann diese mangelnde Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Polizeidienststellen nicht zur Beruhigung der Bevölkerung dienen.“

Die Offenbach-Post wiederum stellte die unbequeme Frage, warum Polizeidienststellen, die nur fünf Kilometer Luftlinie auseinanderliegen, so schlecht zusammenarbeiteten. Der Kommentator forderte, dass die hessische Polizei für eine wirksame Verbrechensbekämpfung straffer und einheitlicher organisiert werden sollte. Die Zeitung stellte die berechtigte Frage: „Ist unsere Polizeiorganisation noch zeitgemäß?“ Über die verspätete Fahndung schrieb sie:

„Sie (die Täter) konnten unbehelligt bleiben, wenn sie in den Großauheimer Kieslöchern, im Klein-Auheimer Fasaneriewald, in den toten Basaltsteinbrüchen von Dietesheim oder im Hanauer Straßengewirr untertauchten, denn niemand suchte bis gegen Mittag dort nach ihnen.“

Die staatliche Polizei verfügte damals schon über ein gut ausgebautes Funk- und Fernschreibnetz. Außerdem standen gut ausgebildete Polizeibeamte bereit, die rund um die Uhr sofort tätig werden und unverzüglich Anordnungen treffen konnten. Bei der kommunalen Polizei konnte es hingegen vorkommen, dass Polizeiwachen in der Nachtschicht aus Personalmangel nur mit ein bis zwei Beamten besetzt waren. Mussten diese zu einem Verkehrsunfall ausrücken, wurde das Telefon auf die Wohnung eines schlafenden dienstfreien Kollegen umgestellt. Solch eine veraltete Organisation mit dem Nebeneinander staatlicher und kommunaler Polizeidienststellen wurde den Anforderungen der modernen Verbrechensbekämpfung nicht mehr gerecht.

              
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Zeitungsanzeige der Hessischen Landespolizei
zur Nachwuchswerbung aus dem Jahre 1963.

©Copyright: Hessisches Ministerium des Innern

Im Dezember 1963 glaubte man, tatsächlich den Mörder von Heinrich Spahn geschnappt zu haben. Der 22jährige Klaus S. hatte mit anderen jungen Leuten eine Auseinandersetzung gehabt. Er war im Anschluss zur Klein-Auheimer Polizeiwache gegangen, um den „Starken“ zu markieren. Stark angetrunken hatte er dort gesagt: „Ich bin der Mörder von Steinheim“. Gleich darauf war er wieder verschwunden, noch bevor die Beamten ihm einige Fragen stellen konnten. Später hatte er noch einmal auf der Wache angerufen und sich gemeldet mit: “Hier ist der Verbrecher von Steinheim.“ Da Klaus S. kein Unbekannter war, wurde er gemeinsam von der Klein-Auheimer Ortspolizei und der Steinheimer Stadtpolizei einkassiert und zur Steinheimer Polizeiwache gebracht. Polizeioberkommissar Much ließ dem jungen Mann eine Blutprobe entnehmen und schickte ihn dann in die Ausnüchterungszelle. Am nächsten Tag wurde er von der Mordkommission vernommen. Bald erkannten die Kriminalisten jedoch, dass Klaus S. nur im Rausch geprahlt hatte. Hinzu kam, dass er für den 29. November ein unerschütterliches Alibi hatte. Er wurde auch ziemlich kleinlaut, als er merkte, wessen er sich da im Suff bezichtigt hatte. Schließlich wurde er entlassen, und ihn erwartete ein Verfahren wegen „Vortäuschung einer Straftat“.

Ebenfalls in Verdacht geriet ein polizeibekannter junger Klein-Auheimer. Er wurde von der Mordkommission vernommen, und sein Alibi soll ziemlich wackelig gewesen sein. Einige Zeit später erhängte er sich.

Auch von jenseits des Brenner drangen Gerüchte nach Steinheim. So sollen zwei Italiener unabhängig voneinander auf ihrem jeweiligen Sterbebett gestanden haben, in der Nacht vom 28. auf den 29. November 1963 Heinrich Spahn ermordet und beraubt zu haben.

Der Raubmord an Heinrich Spahn ist bis heute ungeklärt. Josef Heilmann, der in der Klein-Auheimer Polizeiwache den ersten Anruf in dieser Sache entgegengenommen hatte, nahm einige Jahre später an einem Kriminalistiklehrgang in der Polizeischule in Wiesbaden-Dotzheim teil. Gegenstand einer Fallstudie war der Spahn-Mord. Ergebnis der Analyse: Es war damals viel „versaubeutelt“ worden.

Am 1. Januar 1965 kam das „Aus“ für die kommunale Stadtpolizei Steinheim. Im Zuge der immer weiter fortschreitenden Verstaatlichung wurden ihre Beamten vom Land Hessen übernommen und in die Hessische Landespolizei eingegliedert.

Einige Jahre später wurde auch das Revier im „Hanauer Hof“, dem damaligen Steinheimer Rathaus, aufgelöst. Steinheim wurde zuerst von der Klein-Auheimer Polizeiwache aus bestreift, bis auch diese aufgelöst wurde. Alles wurde endgültig nach Großauheim verlagert.

Im Jahre 1974 war es auch mit der Selbständigkeit der Stadt Steinheim vorbei. Durch die damalige Gebietsreform wurde Steinheim zusammen mit den Nachbargemeinden Klein-Auheim und Großauheim nach Hanau eingemeindet; sie sind seitdem Stadtteile.

Nachwort:

Die Akten im Fall Heinrich Spahn sind zur Zeit verschollen. Weil es sich um einen ungeklärter Mordfall handelt, dürften sie nicht vernichtet worden sein. Da die Oberstaatsanwaltschaft beim Landgericht Darmstadt zuständig war, liegen sie wahrscheinlich heute noch in einem finsteren Winkel eines Aktenkellers bei der Staatsanwaltschaft oder dem Landgericht in Darmstadt und harren ihrer Entdeckung.

Ich habe beim dortigen Archiv angefragt, man will mal in die „Katakomben“ steigen. Dafür jetzt schon herzlichen Dank! Falls die Akten auftauchen, werde ich, vorausgesetzt ich bekäme Einblick, den Bericht umgehend aktualisieren. So konnte ich den Fall bisher nur aus zeitgenössischen Zeitungsartikeln und Gesprächen mit Zeitzeugen rekonstruieren.

Danksagung:

Ich bedanke mich an dieser Stelle herzlich bei Josef Heilmann, Polizeihauptmeister a. D. aus Hanau-Klein-Auheim, für seine Auskünfte. Er ist der letzte lebende Veteran aus den Zeiten der kommunalen Polizei.

Bei meinem Cousin Rudolf Müller und meinem Onkel Leo Mayer für die mir zur Verfügung gestellten Fotos.

Mein weiterer Dank geht wieder an meinen Lektor M.S.

Quellen:

Hanauer Anzeiger vom  26.11.1963

„            „            „      27.11.1963

„            „            „      28.11.1963

„            „            „      29.11.1963

„            „            „      30.11.1963

Offenbach-Post vom     30.11.1963

„              „      „          02.12.1963

„              „      „          03.12.1963

„              „      „          07.12.1963

„              „      „          10.12.1963

Die Schauplätze heute:

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In diesem langgestreckten Bau befand sich damals die Klein-Auheimer Polizeiwache.

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Hinter der Tür links befand sich das Steinheimer Polizeirevier im „Hanauer Hof“,
dem damaligen Rathaus. Rechts vor dem Eingang auf dem Parkplatz standen die
Polizeifahrzeuge. Meiner Erinnerung nach ein VW-Käfer, ein VW-Bulli und ein Opel Caravan.

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Durch den Garten der alten Villa Illert kommend, drangen die Verbrecher in die Druckerei ein. Vor einigen Jahren wurde das Druckereigebäude abgerissen. Heute stehen hier einige mehrstöckige Wohnhäuser.

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Das Eingangsportal des ehemaligen Druckereigebäudes steht unter Denkmalschutz und ist daher
noch erhalten. Links, in dem turmartigen Rundbau, befand sich damals die Pförtnerloge. Rechts vom Eingangstor befindet sich das heutige „Druckhaus“, eine Kneipe, die im September 2009 ausbrannte.

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hundeschule01

Seit 1963 fast unverändert: Die Hundeführerschule der hessischen
Polizei in Mühlheim-Dietesheim mit dem dazu gehörenden Übungsplatz.

Alle Fotos: ©Copyright, Arndt-Heinz Marx, Hanau