1910 – Terror in Friedberg
Zeitgenössische Zeitungsillustration
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1. Das Duo
Im Jahre 1880 wurde in Niederschönenfeld (Bayerisch-Schwaben) in einem ehemaligen Zisterzienserinnenkloster die erste deutsche Haftanstalt für jugendliche Straftäter eingerichtet.
Hier lernten sich im ersten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts zwei junge Kriminelle unterschiedlichen Kalibers kennen, als sie dort ihre Freiheitsstrafen verbüßten. Beide arbeiteten in einer Zelle zusammen und baldowerten schon wieder „Dinger“ aus, die sie nach ihrer Freilassung „drehen“ wollten. Sie träumten vom großen Geld und von der Auswanderung nach Amerika.
Der eine war: Otto Adolf Friedrich Winges, geb. am 24.09.1889 in Leipzig.
Er hatte im Jahre 1906 zusammen mit einem Komplizen einen bewaffneten Überfall auf ein Bankgeschäft in der Briennerstraße in München begangen. Die beiden Junggangster waren jedoch gleich darauf verhaftet worden. Winges hatte eine Freiheitsstrafe von 3½ Jahren kassiert, sein Komplize wurde für ein Jahr und zehn Monate eingebuchtet. Die Wiener „Die Neue Zeitung“ schrieb am 26.06.1910 über diesen missglückten Bankraub (Rechtschreibung und Zeichensetzung nach dem Original):
„Winges hat vor vier Jahren einen aufsehenerregenden Bankraub in München ausgeführt. Sein Verführer war damals der zu der Zeit 16jährige Kaufmannslehrling Theodor G. Er und Winges, der damals 17 Jahre zählte, waren in Leipzig bedienstet. G. hatte viele Indianer- und Detektivgeschichten gelesen. Diese hatten in ihm den Drang zu Abenteuern und die Lust nach großen Taten erweckt. Als er Ende April 1906 vom Prokuristen der Firma Ferdinand Kühle u. Gie: in Leipzig 2000 Mark zur Bezahlung von Zollspesen erhielt, brannte er mit seinem Freund Winges durch. Mit Dolchen und Revolvern ausgerüstet, flüchteten sie nach München. In wenigen Tagen waren die 2000 Mark durchgebracht.
Nun kamen die Beiden überein, sich durch einen kühnen Handstreich Geld zu verschaffen. Nach langem Umherspähen wählten sie zum Schauplatz ihrer Tätigkeit das Bankgeschäft von Mathilde Kopeller in der Brienerstraße. G. und Winges bewaffneten sich mit je einem Stilett, Winges hatte einen, G. zwei scharfgeladene Revolver. So begaben sie sich zum Bankgeschäft. G. hielt vor der Türe Wache. Winges betrat den Laden und verlangte eine amerikanische Zehndollarnote zu kaufen. Der Prokurist Strasser ließ die Note durch den Kontoristen Blümel, mit dem er sich allein im Laden befand, aus der Auslage holen. Da bemächtigte sich Winges rasch der Note und steckte sie in die Westentasche. Dann hielt er dem erschrockenen Prokuristen, ehe dieser zur Besinnung kam, den Revolver entgegen. Mit dem Rufe: „Zurück, zurück, die Kasse auf oder ich schieße! Die Kasse auf oder tot!“ drängte er den Bankbeamten schrittweise zum Kassenraum. Auch G. war jetzt in das Bankgeschäft getreten und hatte mit dem Revolver den Kontoristen Blümel aufs Korn genommen. Strasser flüchtete auf ein im Kassenraum befindliches Podium und schleuderte von dort, um Passanten aufmerksam zu machen, ein Tintenfaß und ein Wasserglas durch die Fensterscheiben auf die Straße.
Tatsächlich hörte der Ausgeher Nowarowitsch den Lärm und eilte in den Laden. Die Beiden flüchteten jetzt, wurden jedoch auf der Straße eingeholt und verhaftet.“
Der andere war: Friedrich Karl Werner, geb. am 29.09.1890 in Kaiserslautern.
Er hatte Einbrüche begangen, wohl auch einen Kirchendiebstahl (der ihm nicht nachgewiesen werden konnte) und hatte Geld bei einer Bank erschwindelt. Er war zu einem Jahr und zwei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Werner war auf die Oberrealschule gegangen und hatte
sich besonders für Physik und Chemie interessiert. Er hatte „Schauerromane“ und Groschenhefte verschlungen, hier besonders die Romane der Serie „Nick Carter“. Diese Serie um einen New Yorker Detektiv war von einem Dresdner Verleger aus den USA importiert und ins Deutsche übersetzt worden. Sie war einer der großen Heftromanerfolge der Wilhelminischen Zeit. Die Schmöker fanden reißenden Absatz, und es wurden zeitweise bis zu 45 000 Stück in einer Woche verkauft. Besonders unter Jugendlichen und Heranwachsenden waren sie beliebt. Werners Vorstellungswelt war höchstwahrscheinlich durch diese Kriminalabenteuer geprägt worden. Hierbei dürfte seine Sympathie sicherlich weniger dem positiven Helden Nick Carter, sondern mehr dessen kriminellen Widersachern gegolten haben.
Die Abenteuer von Nick Carter inspirierten das Bomben-Duo
Sammlung: Arndt-Heinz Marx
Winges forderte Werner dazu auf, seine chemischen und physikalischen Kenntnisse zu erweitern, um Sprengstoffe und Betäubungsmittel herstellen zu können. Man könne mit diesen Dingen viel mehr Taten ausführen.
Werner wurde wegen guter Führung im März 1909 vorzeitig aus der Haft entlassen. Kurz darauf öffneten sich auch für seinen Knastkumpel Winges die Tore der Jugendhaftanstalt.
Auf die beiden hatte der Aufenthalt in dieser Einrichtung jedoch seine erzieherische Wirkung verfehlt.
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