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Kapitel 3
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3. Der große Coup – Beute: null Mark!

Werner quartierte sich schon am 15. Juni 1910 unter dem Namen Schmitt im Friedberger Burghotel, Vorstadt zum Garten 15, ein. Er verlangte ein Zimmer mit abschließbarem Schrank und suchte sich das beste Zimmer des Burghotels aus. Er bezahlte die Miete bis zum 19. Juni im voraus. Den Wirtsleuten fiel auf, dass der angebliche Schmitt die Schlüssellöcher seines Zimmers mit Papier verstopfte. Auch hatte er nur ein kleines Paket bei sich, in das keine Garderobe passte. Bei seiner Ankunft trug er einen hellgrauen Anzug mit grünem Hut, später, nach dem Empfang, verließ er das Hotel im blauen Anzug mit roter Krawatte und Panamahut. Wahrscheinlich trug er zwei Anzüge übereinander, um dann nach dem geplanten Überfall zur Tarnung schnell die Kleider wechseln zu können. Die Nacht zum 16. Juni verbrachte der seltsame Logiergast nicht im Hotel. Wahrscheinlich war er in Bad Homburg, um die Erpressung von Majer zu organisieren. Von dort ging es wahrscheinlich erst zurück nach Frankfurt am Main, um die notwendigen Besorgungen zu machen Zu dieser Zeit war die Wohnung von Frau Engler in der Moselstraße nach wie vor die Operationsbasis für das Friedberger Vorhaben des Bomben-Duos.

Werner traf sich später mit Winges, der sich wahrscheinlich irgendwo in der Nähe einquartiert hatte, in der Innenstadt von Friedberg. Schon wiederholt hatten sie unabhängig voneinander unter dem Vorwand, Geld wechseln zu wollen, die Reichsbanknebenstelle betreten, um die Örtlichkeiten und die Einrichtung auszuspionieren. Sie fassten den Plan, vor dem Überfall am Nachmittag zur Ablenkung eine Bombe hochgehen zu lassen, um  dann in dem entstandenen Durcheinander die Bank unauffälliger erleichtern zu können. Die von Werner in Frankfurt gebastelte „Höllenmaschine“ enthielt 1 1/2 bis 2 Kilogramm Dynamit, als Ummantelung diente eine eiserne Kanalröhre. Die Bombe war außerdem  mit  einer Uhr versehen.

In einen schwarzen Musterkoffer einmontiert, wurde sie von einem Dienstmann vom Friedberger Bahnhof zu Werner ins Burghotel gebracht. In dem Koffer befanden sich außerdem noch zwei mit dünnem Blech ummantelte Handbomben mit Zündschnur, die nach dem Banküberfall verwendet werden sollten, um den Rückzug zu decken.

Am 22. Juni 1910 traf sich das Duo zum Mittagessen im Hotel Trapp auf der Kaiserstraße.

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Hier, im Hotel Trapp auf der Friedberger Kaiserstraße, nahm das Bombenduo vor dem Attentat sein Mittagessen ein (Zeitgenössische Postkarte)

©Privatarchiv, Arndt-Heinz Marx, Hanau

Winges wollte, dass die Bombe, um vom Überfall abzulenken, am Nachmittag mitten auf der Kaiserstraße explodiert. Doch Werner hatte Skrupel und schlug das Rathaus vor. Winges war damit einverstanden. Nach dem Mittagessen trug Werner die Bombe in den Garten des Gasthauses „Zur Reichskrone“. Hier stellte er die Uhr der „Höllenmaschine“ ein.

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„Gasthaus „Zur Reichskrone“. Hier im Garten stellte Werner die Uhr der Zeitbombe ein

(Zeitgenössische Postkarte) ©Privatarchiv, Arndt-Heinz Marx, Hanau

Danach ging Werner  mit der Bombe zum Friedberger Rathaus und stellte sie in einem Winkel  der Innentreppe ab. Da es gerade regnete, wartete Winges auf der Kaiserstraße unter dem Balkon des Hotels Trapp, wohin Werner zurückkam. Von dort gingen sie gemeinsam ins Cafe Hock auf der Kaiserstrasse und warteten bei Kaffee und Eis auf die Bombenexplosion im Rathaus.

Um 15.55 Uhr erschütterte eine Detonation das beschauliche Friedberg in der Wetterau.

Der „Spezialberichterstatter“ des Frankfurter General-Anzeigers beschrieb in der Ausgabe vom 23. Juni 1910 das Attentat folgendermaßen (Rechtschreibung und Zeichensetzung nach dem Original):

„Die alte hessische Kreisstadt Friedberg wurde am Mittwoch nachmittag der Schauplatz eines doppelten Verbrechens, dessen Teile im innigen Zusammenhang zueinander stehen, eines Verbrechens, wie wir es in Deutschland in seiner ganzen umfangreichen Größe wohl noch nicht kannten. Amerika und das Phantasieland des Schauerromans allein waren bisher die Gegenden, in denen derartige Fälle vereinzelt sich zugetragen haben – sollen. In der Hauptstraße der Stadt, der Kaiserstraße, steht das Rathaus, ein zweistöckiges, im Jahre 1738 erbautes Barock-Gebäude, in dessen Parterre Polizei, drei Arrestzellen, ein Markthallenraum für den Buttermarkt am Mittwoch und Samstag und das Stadtarchiv untergebracht sind. In der ersten Etage des prächtigen kleinen Baues finden sich die Räume der Bürgermeisterei und der Stadtkasse, im zweiten Stockwerk Polizeiverwaltungsräume, das Meldeamt, das Baubureau und die Wachstube. Etwa 20 Beamte versehen in diesen Räumen den täglichen Dienst. Fünf Minuten vor 4 Uhr wurde das alte Haus durch eine gewaltige Detonation in seinen Grundmauern erschüttert, die nicht nur in der Stadt, sondern in der weiten Umgebung gehört wurde. In demselben Augenblick ist das ganze Gebäude in eine dichte Rauchwolke gehüllt und die erschreckten eingeschlossenen Beamten, die über die demolierte Treppe nicht mehr den Weg ins Freie erreichen können, stürzen unter Feuer- und Hilferufen an die Fenster. Denn selbstverständlich haben sie im ersten Augenblick angenommen, dass eine schwere Gasexplosion erfolgt sei, die das Haus in Brand gesetzt habe. Ihre Vermutung soll bald eine unerwartete Aufklärung finden. In wenigen Minuten ist die brave Friedberger Feuerwehr am Platz, eilig fliegen die Leitern zu den Fenstern der gefährdeten Beamten empor und einer nach dem andern wird auf diesem Wege in Sicherheit gebracht. Jetzt ergreift der umsichtige Kommissar Weiß, der selbst im Rathaus bisher eingeschlossen war, das Kommando, lässt durch Schutzleute den Platz absperren, die Feuerwehr steht mit ihren Löschzügen bereit, die Flammen zu dämmen. Aber nirgends schlägt das Feuer aus dem Gebäude. Da taucht in den Umstehenden die nahe liegende Vermutung auf, es handele sich um ein Bombenattentat. Im noch weiterem Umkreise wird der Platz durch ein starkes Balkengitter abgesperrt und alle Vorsichtsmaßregeln werden getroffen, um einer etwaigen zweiten Explosion zu begegnen. Langsam dringen die Beamten in das Gebäude ein und es bietet sich ein Bild der Verwüstung.

Das ganze Rathaus ist vollständig aus den Fugen gerissen, Decken und Wände sind verbogen und gesplittert, das gesamte Holzwerk und die leichteren in Trümmer zusammengebrochen, das Treppenhaus vollständig verschwunden, sämtliche Zwischenwände herausgerissen, sodaß man durch die ganze Zimmerflucht hindurchsehen kann, alle Fenster zerschmettert. Der ganze Parterreraum bis hoch hinauf bildet ein einziges Chaos von Lattenstücken, zerbrochenen Metallteilen umherliegenden Türklinken, herausgerissenen Haspen und Angeln. Nach einer halben Stunde hat sich der Rauch verzogen und man gewinnt erst ein deutliches Bild von der Zerstörungskraft eines Augenblickes…“

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Die Verwüstungen im Inneren des Friedberger Rathauses nach der Explosion

©Copyright: Stadtarchiv Friedberg/Hessen

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Kurz nach dem Attentat versammelt sich eine Menge von Schaulustigen vor dem Rathaus

©Copyright: Stadtarchiv Friedberg/Hessen

Während die Feuerwehr, die Polizei und Leute aus der Bevölkerung zum Rathaus liefen, verließ auch der Kassenbote der 500 Meter entfernten Reichsbanknebenstelle in der Kaiserstraße 117 das Gebäude, um nach der Ursache der Explosion zu sehen. Das Duo hingegen ging zur selben Zeit mit Fahrrädern, die höchstwahrscheinlich vorher von ihm gestohlen worden waren, zur Reichsbanknebenstelle. In dieser befand sich jetzt nur noch der Bankvorsteher Meyer.

Winges und Werner stellten vor dem Gebäude die Räder ab, setzten die Masken auf, vertauschten die Hüte und begaben sich ins Bankinnere. Sie planten, unter vorgehaltener Waffe den Bankvorsteher einzuschüchtern und ihn mit den Ketten zu fesseln, um anschließend in Ruhe die Filiale ausrauben zu können. Werner stand jedoch auf einmal unvermutet dem Bankdirektor Meyer direkt gegenüber und brachte kein Wort heraus. Er holte seine Pistole hervor und wollte Meyer damit bedrohen. Der Bankdirektor sprang jedoch entschlossen auf Werner zu und schlug ihm die Pistole weg. Dann kam es zwischen den beiden zu einem Ringkampf, der sich bis zu einem Fenster fortsetzte. Dort rief Meyer nach draußen um Hilfe. Daraufhin kam Winges angerannt und schlug Meyer andauernd mit der Pistole auf den Kopf. Meyer ließ den Werner stehen und wandte sich gegen Winges, der daraufhin bald die Flucht ergriff. Werner wollte seinem Komplizen hinterherlaufen, aber Meyer versuchte, ihn wieder zu packen. Daraufhin gab Werner aus seiner Browning-Pistole einen Schuss ab, der Meyer am Hals streifte. Dann rannte auch Werner aus der Bank. Er mischte sich unauffällig unter das Volk und kaufte sich auf der Kaiserstraße einen neuen Hemdkragen, da der alte durchgeschwitzt und durch den Ringkampf mit Meyer zerknittert war.

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Der angeschossene Bankdirektor Meyer kurz nach dem Überfall

©Copyright: Stadtarchiv Friedberg/Hessen

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Der Kassenraum der Reichsbank kurz nach dem Überfall

©Copyright: Stadtarchiv Friedberg/Hessen

Anschließend begab sich Werner auf Umwegen zum Burghotel zurück, machte sich frisch und spazierte auf dem Promenadenweg nach Bad Nauheim. Dort besorgte er sich einige neue Hosen und einen Gummimantel. Von Bad Nauheim aus fuhr er per Bahn nach Frankfurt zurück. Um sich unkenntlich zu machen, hatte er sich außer der neuen Bekleidung auch noch einen von Winges stammenden Zwicker aufgesetzt. Bei Einbruch der Dunkelheit traf er in Frankfurt ein. Er warf  Dynamit, Gelatine, Knallquecksilber, Bücher, Scherben eines Mörsers und Papiere von Winges in den Main. Trotzdem fand die Polizei bei der späteren Hausdurchsuchung in der Mansardenwohnung von Frau Engler in der Moselstraße noch genug Material, das von Werners Bombenlabor herrührte. Vom Schicksal des Winges hatte Werner bereits auf der Bahnfahrt gehört.

Bevor wir jedoch die weitere Flucht Werners verfolgen, geht es erst einmal zurück nach Friedberg, um zu sehen, wie es Winges ergangen war …

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Links das Gebäude der Reichsbank, rechts das Friedberger Rathaus

(historische Fotocollage) ©Copyright: Stadtarchiv Friedberg/Hessen

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